Das lange, wirklich, wirklich lange Argumentarium gegen die “Selbstbestimmungsinitiative”
59’586 Buchstaben gegen die SBI: Wer noch Argumente gegen die sogennannte “Selbstbestimmungsinitiative” braucht: Hier findest du alle Gründe gegen die Initiative.
Das Allerwichtigste vorweg:
Die Initiative der SVP will das Verhältnis von Völkerrecht und der Verfassung der Schweiz neu regeln - es geht also um das Verhältnis zweier Gruppen von Regeln zueinander. Was auf der einen Seite steht, ist klar: Die Verfassung der Schweiz. Es geht nur um die Bundesverfassung. Das Verhältnis von anderem Schweizer Recht, zum Beispiel von Bundesgesetzen, die eine Stufe unterhalb der Verfassung stehen, zum Völkerrecht ist von der Initiative nicht betroffen.
Das Wichtigste zum Völkerrecht
In den folgenden Abschnitten beschreiben wir dir, was Völkerrecht ist, was ein Konfliktfall, was der Unterschied ist zwischen Verträge brechen und kündigen und was der Unterschied zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung. All dies sind wichtige Punkte um zu verstehen, wieso die “Selbstbestimmungsinitiative” so problematisch ist.
Was auf der anderen Seite steht, nämlich das Völkerrecht, ist weniger klar. Das Völkerrecht umfasst sehr viel mehr Regeln als unsere Verfassung, ist nicht in einem einheitlichen Dokument zusammengefasst und hat verschiedene Quellen. Die wichtigste Quelle, und die einzige, die für diese Initiative eine praktische Rolle spielt, sind Verträge zwischen Staaten oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen, z.B. ein Vertrag zwischen der Schweiz und Österreich oder zwischen der Schweiz und der UNO. Wie gut diese Verträge demokratisch abgesichert sind unterscheidet sich von Staat zu Staat.
In der Schweiz müssen solche Verträge, wenn sie wichtige Fragen betreffen, vom Parlament abgesegnet werden, und das Volk kann das Referendum gegen sie ergreifen; wenn sie sehr wichtig sind (zum Beispiel den Beitritt zu einer Organisation kollektiver Sicherheit, wie der Nato), unterstehen sie sogar dem obligatorischen Referendum. Das Völkerrecht, das die Schweiz rechtlich bindet, besteht also praktisch vor allem aus Verträgen, welche die Schweiz freiwillig und nach einem demokratischen Verfahren eingegangen ist.
Es kommt hin und wieder vor, dass zwischen solchen Verträgen und der Schweizer Verfassung Widersprüche entstehen und daher Konflikte auftauchen. Um solche Konflikte geht es in der Initiative. Die Initiative vermittelt aber ein viel zu einfaches Bild, das Bild von der Rechtsordnung als eine Schwarzwäldertorte, bei der entweder das Völkerrecht oder des Verfassungsrecht zuoberst liegt. In der Realität ist es viel komplizierter, insbesondere weil zwischen Verletzung und Kündigen und zwischen Rechtsanwendung und Rechtsetzung unterschieden werden muss. Sie will erreichen, dass im Konfliktfall jeweils der Vertrag entweder verletzt und/oder gekündigt werden muss. Verletzt werden müssen Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden haben (das ergibt sich aus Art. 190 BV in der Initiative), gekündigt werden müssen hingegen alle Verträge, die mit der Verfassung in Konflikt stehen, unabhängig davon, ob sie dem Referendum unterstanden haben oder nicht (das ergibt sich aus Art. 56a BV in der Initiative). Das gilt jedenfalls dann, wenn der Vertrag nicht neu ausgehandelt werden kann um so den Konflikt mit der Verfassung zu beheben. Es gilt also: Die Initiative bewirkt, dass Verträge gekündigt werden müssen, die mit der Verfassung in Konflikt stehen. Verträge, die dem Referendum unterstanden haben, müssen allerdings bis zur Kündigung weiterhin angewandt werden; Verträge, die nicht dem Referendum unterstanden haben, müssen aktiv verletzt werden, während dem sie noch in Kraft sind.
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Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterstand aus historischen Gründen nicht dem Referendum. In einigen Punkten steht sie in Konflikt mit der Verfassung (etwa mit einigen Aspekten der Ausschaffungsinitiative). Sie müsste daher nach einer Annahme der Initiative wohl regelmässig verletzt werden. Parallel dazu müssten Neuverhandlungen über die Konvention aufgenommen werden. Da diese wohl kaum neu verhandelt werden kann, müsste die EMRK schliesslich wohl auch gekündigt werden. (Der Urheber der Initiative, Nationalrat Hans-Ueli Vogt sagte, die Kündigung der EMRK liege “in der Stossrichtung der Initiative.)
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Gegenbeispiel ist das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU. Auch dieses steht mit der Verfassung in Konflikt (Masseneinwanderungsinitiative); es unterstand allerdings dem Referendum. Es dürfte also nicht verletzt werden. Hingegen müsste es neu verhandelt werden. Da dies sehr wahrscheinlich scheitern würde, müsste das Personenfreizügigkeitsabkommen dann eigentlich ebenfalls gekündigt werden.
Verletzen ist nicht gleich kündigen
Diese doppelte Konsequenz, die Verletzung des jeweiligen völkerrechtlichen Vertrages einerseits und die Kündigung andererseits, ist zentral für das Verständnis dafür, wie die Initiative wirkt. Die beiden Konsequenzen werden in der Debatte oft verwechselt, müssen aber sauber auseinander gehalten werden:
Die Verletzung eines Vertrages bedeutet, eine Vorschrift, die sich aus dem Vertrag ergibt, nicht einzuhalten, obwohl der Vertrag nach wie vor gültig ist. Unter Privaten bedeutete das zum Beispiel dass ich einen Geldbetrag nicht oder zu spät bezahle, obwohl ich durch einen Vertrag zur Zahlung verpflichtet bin. Im Völkerrecht bedeutet das zum Beispiel, die Menschenrechte einer Person zu verletzen, obwohl ein gültiger Vertrag vorliegt, der diese Menschenrechte schützt.
Die Verletzung von Verträgen ist ein problematisches, unredliches und schädliches Verhalten. Das gilt ganz besonders für die Schweiz. Es gibt kein Land auf der Welt, das so stark auf der Idee eines gegenseitigen Versprechens aufgebaut ist, wie die Schweiz. Die Schweiz trägt diese Idee sogar als einziger Staat auf der Welt in ihrem Namen. Sie heisst “Eidgenossenschaft”, was zum Ausdruck bringt, dass sie auf einem gegenseitigen Versprechen ihrer Stände und ihrer Bürgerinnen und Bürger aufgebaut ist, miteinander zum gemeinsamen Wohle aller zu kooperieren. Genau dies ist auch die Idee hinter völkerrechtlichen Verträgen. Sie sollen die gemeinsamen Interessen ihrer Parteien auf der Basis eines verbindlichen gegenseitigen Versprechens fördern. In diesem Sinne ist “Eidgenossenschaft” lediglich ein anderes Wort für “völkerrechtlicher Vertrag”.
Die Kündigung eines Vertrages hingegen bedeutet dessen Beendigung. Unter Privaten bedeutet das zum Beispiel die Beendigung eines Miet- oder Arbeitsverhältnisses. Einmal beendet, besteht keine weitere Verpflichtung mehr, die Miete zu bezahlen oder zur Arbeit zu erscheinen. Im Völkerrecht bedeutet das zum Beispiel den Ausstieg aus der Menschenrechtskonvention. Einmal gekündigt, würde diese die Schweiz nach einer Übergangszeit nicht mehr länger verpflichten. Damit könnte dann auch kein Konflikt mehr mit der Verfassung vorliegen.
Der wichtige Unterschied zwischen Rechtsanwendung und Rechtssetzung
Die Verletzung eines völkerrechtlichen Vertrages geschieht auf der Ebene der Rechtsanwendung. Wenn zum Beispiel eine Behörde oder ein Gericht entscheiden muss, was mit einem bestimmten straffälligen Ausländer zu geschehen hat. Wenn eine diesbezügliche Regel sich aus einem völkerrechtlichen Vertrag ergibt, dieser aber auf den Einzelfall nicht angewendet werden darf, dann bedeutete das, dass der völkerrechtliche Vertrag verletzt wird. Das geschieht durch das Handeln einer Behörde oder eines Gerichtes.
Die Kündigung eines Vertrages erfolgt hingegen auf der Ebene der Rechtssetzung. Es ist nicht die Anwendung einer Regel auf den Einzelfall, in dem sich das Problem stellt, sondern die Regel wird als Ganzes aufgehoben. Das kann nicht durch ein Gericht oder eine Behörde erfolgen, sondern durch den Bundesrat oder durch das Parlament.
So wichtig es ist, Vertragsverletzung und Vertragskündigung auseinander zu halten, so wichtig ist es auch, Rechtsanwendung und Rechtssetzung auseinander zu halten. Es ist grundsätzlich legitim, Verträge zu kündigen, wenn sie einem nicht mehr behagen. Allerdings wird es oft nicht möglich sein, durch die Kündigung eines bestehenden Vertrages einen besseren neuen Vertrag zu erzwingen. Verträge zu verletzen, ist hingegen grundsätzlich problematisch. Denn dabei handelt es sich immer um die Verletzung einer verbindlichen, gegenseitigen Abmachung. Ganz besonders problematisch ist die Verletzung von Verträgen, wenn sie automatisch, regelmässig und systematisch erfolgen würde, wie dies die Initiative verlangt.
Die Folgen der Initiative
Es ist ausgesprochen schwierig, die Folgen einer Annahme der Initiative seriös abzuschätzen. Das hat mehrere Gründe.
Der wichtigste Grund liegt darin, dass die Initiative so grundsätzlich ist und sich auf alle völkerrechtlichen Verträge bezieht, nicht bloss auf bestimmte völkerrechtliche Verträge, und dass sie Wirkung beansprucht gegenüber allen Verträgen, die die Schweiz in der Vergangenheit geschlossen hat und in der Zukunft noch schliessen wird. Das Völkerrecht regelt eine grosse Vielzahl von Lebensbereichen, von der internationalen Friedensordnung und den internationalen Menschenrechten, den internationalen Handelsbeziehungen bis zur Bodenseeschifffahrt. Die Schweiz hat sich gegenüber ihren ausländischen Partnern in mehreren tausend verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen verpflichtet, die zum Teil bereits im 19. Jahrhundert abgeschlossen worden sind. Hinzu kommt, dass die schweizerische Bundesverfassung im internationalen Vergleich extrem leicht abgeändert werden kann (Volksinitiativen) und sehr viele Details enthält.
Niemand kann daher seriöserweise abschätzen, wie viele Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verträgen der Schweiz und ihrer Verfassung momentan vorliegen und wie viele in der Zukunft entstehen können. Es gibt aber auch Konflikte, die bereits jetzt gut bekannt sind. Dazu gehören die Konflikte zwischen der Verfassung und der EMRK einerseits sowie zwischen der Verfassung und dem Personenfreizügigkeitsabkommen andererseits. Allerdings sind auch für diese Konflikte die Folgen der Initiative nur extrem schwierig abzuschätzen. Viele juristische Fragen sind ungeklärt.
Einige Beispiele:
Die EMRK selber unterstand zwar nicht dem Referendum, einige ihrer wichtigen Zusatzprotokolle aber schon. Bedeutet das nun, dass die EMRK als ganzes so behandelt wird, als habe sie dem Referendum unterstanden (in diesem Falle dürfte sie nicht verletzt werden), oder bedeutet es dies gerade nicht?
Das Bundesgerichtsgesetz verpflichtet das Bundesgericht dazu, EGMR-Urteile gegen die Schweiz umzusetzen. Diese Verpflichtung bliebe in Kraft, obwohl die Bundesverfassung neu das Gegenteil besagen würde. Was gilt nun?
Wenn die EMRK verletzt werden könnte, bedeutete dies, dass sie auch noch gekündigt werden müsste? Die Initianten bestreiten dies (manchmal); der Text der Initiative fordert dies allerdings recht eindeutig. Was gilt nun?
Das Personenfreizügigkeitsabkommen steht zwar in einem Konflikt mit der Verfassung und müsste daher eigentlich gekündigt werden. Allerdings ist die Masseneinwanderungsinitiative auf Gesetzesstufe so umgesetzt worden, dass wohl kein Konflikt mehr besteht zwischen der gesetzlichen Umsetzung und dem Abkommen. Was ist nun entscheidend dafür, ob ein Konflikt vorliegt? Das, was die entsprechende Verfassungsbestimmung eigentlich verlangt, oder das, was davon tatsächlich umgesetzt worden ist?
Ein Vertrag müsste zuerst neu verhandelt werden, ehe er “nötigenfalls” gekündigt würde. Aber was bedeutet “nötigenfalls”? Wann ist eine Neuverhandlung gescheitert? Wer entscheidet das? Der Bundesrat oder das Parlament? Wer würde eine Kündigung einleiten?
Rechtsunsicherheit
All diese offenen Fragen deuten darauf hin, dass die Initiative eher ein langsam wirkendes Gift wäre, als dass sie sofortige, drastische Folgen hätte. Ihre Folgen wären am ehesten eine wachsende Rechtsunsicherheit, grosse politische Baustellen, auf denen über Jahrzehnte hinweg Unklarheit herrschen würde, Unsicherheit darüber, wie weit die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat geschützt sind, Unsicherheit für Investoren und Unternehmen, eine wachsende Unzuverlässigkeit der Schweiz gegenüber ihren Vertragspartnern und damit verbunden ein immer stärker beschädigter Ruf der Schweiz.
Hinzu kämen Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Parlament und dem Bundesrat einerseits und zwischen Gerichten, insbesondere dem Bundesgericht, und dem Parlament und dem Bundesrat andererseits. Nicht die viel gerühmten Volksrechte würden durch die Initiative gestärkt, sondern das am Grundsatz der Gewaltenteilung orientierte Institutionengefüge des Rechtsstaates geschwächt.
Die SVP hat diese Rechtsunsicherheit wohl beabsichtigt, denn sie kann von einem solchen Durcheinander durchaus profitieren:
Nicht nur können durch die Annahme der Initiative wohl möglich internationale Instanzen, wie der EGMR, “ausgeschalten” werden, die ab und an Entscheide treffen, die der SVP nicht in den Kram passen.
Es werden durch dieses Durcheinander auch viel öfter Situationen entstehen, in denen die SVP behaupten kann, das Parlament oder die Regierung hätten einen “Verfassungsbruch” begangen oder das “Volk verraten”. Sie wird viel öfter gegen die anderen Parteien, gegen den Bundesrat und gegen die Gerichte im Land schiessen können und selber posieren können als die einzige Partei im Lande, welche den Volkswillen ernst nehme.
Die SVP ist die einzige Akteurin im ganzen Land, der diese Initiative nützen würde. So unsicher es ist, wie die Initiative genau wirken würde, so gefährlich ist sie in der grundlegenden und umfassenden Rechtsunsicherheit, die sie verursachen würde, in dem Chaos, das sie langsam aber sicher herbeiführen würde. In der Breite und der Grundsätzlichkeit, mit der diese Initiative die Rechtssicherheit, die Zuverlässigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin und menschenrechtliche Mindeststandards unterminiert, ist sie die gefährlichste Initiative, welche die SVP je lanciert hat.
Vertragsbruch
Die wichtigste und unmittelbarste Folge der Annahme der Initiative wäre, dass die Schweiz völkerrechtliche Verträge verletzen müsste, die nicht dem Referendum unterstanden haben und die mit der Verfassung in einem Konflikt stehen.
Natürlich fordert die Initiative nicht offen, die Schweiz müsse Verträge verletzen. Die Initiative will dies aber erreichen und tut das gut versteckt im Initiativtext.
Die Initiative ändert Artikel 190 der Bundesverfassung ab. Dieser lautet heute: “Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.” Neu würde er ganz ähnlich lauten, sich in einem entscheidenden Punkt aber unterscheiden: “Bundesgesetze und völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstanden hat, sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.”
Das bedeutet, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag nicht dem Referendum unterstanden hat, dann wäre er neu in der Rechtsanwendung nicht mehr “massgebend”. Eine Behörde dürfte den Vertrag also nicht mehr anwenden, wenn er in Konflikt steht mit der Bundesverfassung. Das heisst, eine Behörde müsste den entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag verletzen.
Folgendes Beispiel kann dies verdeutlichen: Die Verfassung verbietet den Bau von Minaretten. Die EMRK verpflichtet die Schweiz zur Umsetzung von Entscheiden des Europäischen Gerichtshofes in Strassbourg, die sich gegen die Schweiz richten. Es bestehen gute Chancen, dass die Schweiz in Strassbourg wegen Verletzung der Religionsfreiheit verurteilt wird, wenn jemand, der ernsthaft ein Minarett bauen möchte, die Frage bis nach Strassbourg bringen würde. Nun sagt die Verfassung: Das Minarett darf nicht gebaut werden. Und die EMRK sagt: der Entscheid des Gerichts, wonach der Bau des Minarettes erlaubt werden muss, muss umgesetzt werden. Die Schweiz muss nun das Gegenteil von dem tun, was ein Vertrag vorschreibt, den sie eingegangen ist. Sie muss einen Vertrag verletzen.
Die Verletzung von Verträgen ist ein problematisches, unredliches und schädliches Verhalten. Das gilt ganz besonders für die Schweiz. Es gibt kein Land auf der Welt, das so stark auf der Idee eines gegenseitigen Versprechens aufgebaut ist, wie die Schweiz. Die Schweiz trägt diese Idee sogar als einziger Staat auf der Welt in ihrem Namen. Sie heisst “Eidgenossenschaft”, was zum Ausdruck bringt, dass sie auf einem gegenseitigen Versprechen ihrer Stände und ihrer Bürgerinnen und Bürger aufgebaut ist, miteinander zum gemeinsamen Wohle aller zu kooperieren. Genau dies ist auch die Idee hinter völkerrechtlichen Verträgen. Sie sollen die gemeinsamen Interessen ihrer Parteien auf der Basis eines verbindlichen gegenseitigen Versprechens fördern. In diesem Sinne ist “Eidgenossenschaft” lediglich ein anderes Wort für “völkerrechtlicher Vertrag”. Die Bezeichnung “schweizerische Eidgenossenschaft” bezieht sich dabei auf jenen Vertrag (eigentlich eine lange Serie von Verträgen), mit welchen sich die verschiedenen Teile der alten Eidgenossenschaft zusammen geschlossen haben. Heute ist die moderne Schweiz mit ihren Partnerstaaten eine Serie von – weniger weitreichenden – Eidgenossenschaften eingegangen zur Förderung der gegenseitigen Interessen. Diese sollen nun systematisch und automatisch verletzt werden müssen. Es ist ein Vorhaben, das die zentralste Idee unterhöhlt, auf der die Schweiz aufgebaut ist: Die Verbindlichkeit von gegenseitigen Versprechen, die Idee, dass ein einmal gegebenes Wort gilt. Das ist besonders problematisch, wenn das Wort eines Staates wie der Schweiz nichts mehr gelten soll, die auf Grund ihrer Kleinheit ganz besonders auf die internationale Herrschaft des Rechts angewiesen ist und die ihren internationalen Ruf nicht zuletzt als Gaststaat der UNO und zahlreicher weiterer internationaler Organisationen und als Depositarstaat von so berühmten Verträgen wie den Genfer Konventionen erworben hat. Nichts ist ein so klarer Verstoss gegen besonders schweizerische Werte wie die Verletzung von einmal eingegangenen Versprechen.
Hinzu kommt, dass die Verletzung von Verträgen in der Regel schief geht. Das ist unter Staaten nicht anders als unter Privaten. Wenn ich als Privatperson meine Verträge regelmässig verletze (z.B. nicht zur Arbeit erscheine, die Miete nicht bezahle, zu spät liefere, etc.), dann dient das zwar sehr kurzfristig meinen Interessen, langfristig schadet es aber meinem Ruf und meinen Interessen. Und der Vertrag hört nicht auf, wirksam zu sein, bloss, weil ich ihn verletze. Im Gegenteil. Es ist im Falle der Verletzung, dass der Vertrag seine volle Wirkung entfaltet. Das ist auch im Völkerrecht so. Bloss weil, die Schweizer Verfassung vorschreibt, sie gehe einem völkerrechtlichen Vertrag vor, hört dieser nicht auf, Wirkung zu haben. Dieser Vorrang kann sich nur auf den jeweiligen Anwendungsfall beziehen. Aber der Vertrag geht nicht weg. Wie unter Privaten, löst der Vertrag eine völkerrechtliche Verantwortung aus. Der verletzende Staat muss für seine Vertragsverletzung gerade stehen. In manchen Fällen kann man das Quasi mit dem Checkbuch tun.
Ein Beispiel: Wenn die Schweiz aus irgendeinem Grund ein Doppelbesteuerungsabkommen mit einem anderen Staat verletzt, dann hört dieses Abkommen deswegen nicht auf wirksam zu sein. Zwar kann die Schweiz erreichen, dass eine bestimmte Person in Widerspruch zu dem Abkommen in der Schweiz Steuern bezahlen muss, aber sie wird deren Herkunftsstaat für die Verletzung des Vertrages verantwortlich. Sie muss auf die eine oder andere Art Wiedergutmachung leisten. In diesen Fällen würde das so gehen, dass die Schweiz dem entsprechenden Staat eine bestimmte Geldsumme zahlen würde, oder selber die finanziellen Vorteile für ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger aus dem Vertrag verlieren würde. Damit wäre die Sache erledigt – jedenfalls bis zur nächsten Vertragsverletzung.
Aber was ist mit Verträgen, die einen eigenen Gerichtshof haben, der im Einzelfall entscheiden kann, wie der entsprechende Vertrag anzuwenden ist? Was ist mit Menschenrechtsverträgen, deren Verletzung auch die Verletzung von Menschenrechten zur Folge hat? Diese Art von Vertragsverletzungen kann man nicht einfach mit dem Checkbuch abgelten. Wenn beispielsweise die Verfassung dazu zwingt, eine Person aus ihrer Familie heraus zu reissen und auszuschaffen, und ein Menschenrechtsvertrag vorschreibt, die Familie intakt zu lassen, dann kann dem Vertrag nur dann Genüge getan werden, wenn die Person nicht ausgeschafft wird. Eine Ersatzleistung kommt hier nicht in Frage. Die Idee, man könne Verträge einfach brechen und dann mit dem Checkbuch dafür gerade stehen, funktioniert also in vielen Fällen nicht. Wenn dazu noch ein Gerichtshof eingerichtet ist, der verbindlich entscheidet, und politische Institutionen Druck ausüben können, dass diese Entscheide umgesetzt werden, dann ist absehbar, dass die Folge der Verletzung von Verträgen ist, dass die Verletzung nach einem Machtkampf schliesslich rückgängig gemacht werden muss. In diesen Fällen dient die Verletzung eines Vertrages dann nicht einmal mehr kurzfristigen Interessen. Sie schadet dem Ruf des vertragsbrechenden Staates, den Rechten des Einzelnen und sie endet mit einer herabwürdigenden Niederlage für den Staat, der den Vertragsbruch begangen hat.
Wenn die Schweiz Verträge regelmässig und automatisch brechen müsste, trüge das auch nicht zu ihrer Souveränität bei, wie die Initianten dies behaupten. Im Gegenteil. Souveränität ist ein schwieriger Begriff und wird von verschiedenen Leuten unterschiedlich definiert. Aber eines bedeutet Souveränität bestimmt: Handlungsfähigkeit. Jede und jeder von uns, die einmal 18 Jahre alt geworden sind, haben eine klare Vorstellung davon, was Handlungsfähigkeit bedeutet: Es bedeutet die Möglichkeit, Verpflichtungen eingehen und auf diese Verpflichtungen behaftet zu werden. Es ist die Durchsetzbarkeit dieser Verpflichtungen, die es uns erst ermöglicht, ein Auto zu kaufen oder eine Wohnung zu mieten. Verpflichtet werden zu können, bedeutet einen enormen Zuwachs an Freiheit. Für Staaten gilt nichts anderes. Staaten, die sich selber auferlegen, dass sie keine Verpflichtungen mehr wirksam eingehen können (weil sie nicht mehr verpflichtet sein wollen, wenn ihre Verfassung sich ändert) nehmen sich selber das weg, was wir an unserem 18. Geburtstag gewonnen haben: Handlungsfähigkeit. Die Vorstellung, so souverän sein zu wollen, dass man sich niemandem gegenüber mehr verpflichten kann, erweist sich als Sargnagel für die Souveränität der Schweiz.
Den Initianten geht es ausserdem in erster Linie um den Bruch von Verträgen, die Menschenrechte schützen (wie die Europäische Menschenrechtskonvention, die UNO-Menschenrechtspakte I und II und die Kinderrechtskonvention). Das ergibt sich klar aus der Entstehungsgeschichte der Initiative und zahlreichen Äusserungen der Initianten. Diese Verträge legen menschenrechtliche Mindeststandards fest. Diese Mindeststandards zu unterschreiten, bedeutete nicht nur, dass die Schweiz ihre vertraglichen Pflichten gegenüber anderen Vertragsstaaten verletzen müsste, sondern auch gegenüber einem Menschen, einer Familie, einer Gruppe von Menschen. Die schädliche Wirkung einer Vertragsverletzung geht im Fall der Menschenrechte daher weit über die Interessen der Schweiz hinaus.
Oft wird erwähnt, die Initiative wolle nur, was in anderen Staaten längst selbstverständlich sei, zum Beispiel in Deutschland. Es ist zutreffend, dass in vielen Staaten das Völkerrecht in seiner Anwendung nicht über der Verfassung steht, sonder entweder auf gleicher Stufe oder unterhalb der Verfassung. So kommt es etwa in Deutschland vor, dass es internationale Verträge verletzt, die dem deutschen Grundgesetz oder einem jüngeren Bundesgesetz widersprechen. Aber der Vergleich ist irreführend, denn die Situation der Schweiz ist komplett anders als in den meisten anderen Staaten. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die Verfassung der Schweiz extrem flexibel und extrem detailliert ist (wofür in erster Linie die Möglichkeit von Volksinitiativen verantwortlich ist). Die mögliche “Reibungsfläche” zwischen der Verfassung und dem Völkerrecht ist daher in der Schweiz viel grösser, als in Ländern, in denen die Verfassung nur die grundlegendsten Bestimmungen enthält und kaum je geändert wird. Wenn das Problem, dass Verträge verletzt werden müssen aber fast nur ein theoretisches Problem ist, dann kann man auch ohne Risiko festlegen, die Verfassung gehe in einem Konflikt vor. Wo solche Konflikte regelmässig vorkommen, wie in der Schweiz, geht das nicht, ohne systematisch Probleme zu verursachen. Es kann daher gesagt werden: Je flexibler eine Verfassung, desto eher muss sie völkerrechtlichen Verträgen den Anwendungsvorrang einräumen. Aber auch Staaten, die auf den Vorrang ihrer Verfassung vor dem Völkerrecht bestehen, müssen zunehmend Kompromisse machen, weil es immer mehr Verträge gibt, die man nicht einfach so brechen kann (s.o.), weil sie einen wirksamen Durchsetzungsmechanismus haben. Die EMRK zum Beispiel kann auch von diesen Staaten nicht einfach verletzt werden. In Deutschland gilt denn für die EMRK, also den Vertrag, auf den die Initiative gerade abzielt, auch faktisch eine Ausnahme.
Vertragskündigung
Wenn ein Vertrag in Konflikt steht mit der Bundesverfassung, muss dieser Konflikt laut der Initiative aus der Welt geschafft werden (Art. 56a BV) unabhängig davon, ob er dem Referendum unterstanden hatte und daher verletzt werden muss oder nicht. Die Initiative schreibt vor, dass dies zunächst durch Nachverhandlungen erreicht werden sollte, aber wenn dies nicht gelingt, dann muss der Vertrag gekündigt werden. Da viele Verträge entweder von sehr vielen Parteien abgeschlossen worden sind oder eine recht schmale gemeinsame Interessensbasis haben, wird es oft schwierig sein, Verträge neu zu verhandeln, erst recht, einen besseren Vertrag zu verhandeln. Die Kündigung wäre dann die eigentlich unvermeidbare Folge.
Völkerrecht ist nicht das bessere Recht als Landesrecht. Es kann veralten oder problematisch werden und dann kann es sinnvoll sein, den entsprechenden Vertrag wieder zu kündigen. Im Unterschied zur Verletzung von Völkerrecht ist das grundsätzlich legitim. Wichtig wäre dann aber, dass eine demokratische Debatte über die Kündigung stattfindet, das Für und Wider abgewogen wird und sich die Kündigung am Ende bei einer Mehrheit durchsetzen kann. Das Problem an der Initiative, ist dass sie die Kündigung eines Vertrages als unbeabsichtigte Nebenfolge der Annahme einer Volksinitiative in Kauf nimmt und automatisch vorschreibt.
Wenn es sich herausstellen sollte, dass das Minarettverbot in manchen besonderen Fällen gegen die EMRK verstösst, so bedeutet das, dass die Schweiz die EMRK eigentlich kündigen muss. Obwohl der Konflikt nur einen extrem schmalen Aspekt der gesamten Menschenrechtskonvention betrifft und obwohl die Frage bei der Abstimmung über die Minarette nicht diskutiert worden war und eine Kündigung der EMRK wohl keine Mehrheit gehabt hätte. Ob die Kündigung dann tatsächlich stattfindet oder aus dem einen oder anderen Grund aufgeschoben und wieder aufgeschoben wird, entscheidet nicht mehr das Stimmvolk, sondern der Bundesrat oder das Parlament.
Es ist die unbeabsichtigte Kündigung von Verträgen, die quasi als Nebenfolge einer Initiative auftritt, bei der die Vertragskündigung gar nicht Thema war, die die Initiative unter dem Aspekt der Vertragskündigung so problematisch macht.
Schädigung der Direkten Demokratie
Gegner und Befürworter der Initiative bauen ihre Argumente gerne auf einem Spannungsfeld zwischen Demokratie und Menschenrechtsschutz auf. Die Befürworter wollen die Demokratie zu Lasten der Menschenrechte stärken und die Gegner wollen die Menschenrechte gegen die Gefahr schützen, die ihr ihrer Ansicht nach von der Direkten Demokratie droht. Darüber geht vergessen, dass die Initiative nicht nur die Grundrechte und die Zuverlässigkeit der Schweiz untergräbt, sondern auch der Direkten Demokratie grossen Schaden zufügt.
Zentral für die Direkte Demokratie ist, dass wir als Bürgerinnen und Bürger wissen, worüber wir abstimmen. Nur so können wir einen Willen bilden, nur so können wir wissen, zu was wir zustimmen, oder was wir ablehnen. Bei Vorlagen, die in potentiellem Konflikt mit dem Völkerrecht stehen, ist eine der ganz entscheidenden Fragen für die Willensbildung der Bevölkerung, ob die entsprechenden völkerrechtlichen Verträge verletzt oder gekündigt werden sollen. Es ist daher für die Willensbildung auch entscheidend, dass wir als Bürgerinnen und Bürger wissen, was die Initianten wollen. Wissen wir das nicht, müssen wir die Katze im Sack kaufen.
Beispiel
Bei der Masseneinwanderungsinitiative war von Anfang an klar, dass sie Probleme mit den Bilateralen Verträgen verursachen würde (besonders mit dem Personenfreizügigkeitsabkommen). Die entscheidenste Frage im Abstimmungskampf war darum eigentlich: Führt die Annahme der Initiative dazu, dass diese Verträge verletzt oder gekündigt werden müssen? Das wäre die Frage gewesen, über die vor allem hätte Klarheit herrschen müssen, damit Bürgerinnen und Bürger sich eine unverfälschte Meinung bilden können. Die Frage war im Abstimmungskampf aber nicht nur die wichtigste, es war auch die unklarste. Der Bundesrat bestand im Vorfeld der Initiative darauf, dass diese die Kündigung der Verträge zur Folge hätte, die Initianten behaupteten das Gegenteil. Nachdem die Initiative überraschend angenommen worden war, wechselten beide, der Bundesrat und die Initianten, ihre Position ins Gegenteil. Die Initianten forderten nun ultimativ die Kündigung (und schrien “Verfassungsbruch!” als sie diese nicht erhielten), der Bundesrat hingegen bestand nun darauf, dass die Bilateralen nicht gekündigt werden müssten. Als Bürgerinnen und Bürger wurden wir von beiden Seiten verschaukelt. Wir konnten nicht wissen, wie wir abstimmen müssen, um unserer Meinung Ausdruck zu geben. Hätte die SVP das, was sie mit der Initiative eigentlich erreichen wollte - die Beendigung des Personenfreizügigkeitsabkommens - offen gefordert, so wäre die Initiative mit grosser Wahrscheinlichkeit verloren gegangen, weil es sich nicht um ein mehrheitsfähiges Anliegen handelt.
Die hier vorliegende Initiative würde diese Situation generalisieren. Initianten könnten Volksinitiativen, die mit dem Völkerrecht in potentiellem Konflikt stehen, immer unklar formulieren, im Abstimmungskampf versichern, dass diese nicht zur Kündigung oder Verletzung von für die Schweiz wichtigen Verträgen führen würde, so die Chancen für eine Annahme der Initiative erhöhen und nach einer Annahme dann die Verletzung oder Kündigung von Abkommen fordern, die nicht mehrheitsfähig gewesen wäre, wenn sie offen verlangt worden wäre. Die Initiative ermutigt daher, dass Volksinitiativen künftig auf strategische Art unklar formuliert werden, dass Bürgerinnen und Bürger strategisch getäuscht werden. Es ist das Gegenteil der Maxime, dass Direkte Demokratie direkte Verantwortung bedeute und dass daher die Initianten von Volksinitiativen die Verantwortung dafür tragen müssten, dass ihre Initiativen klar formuliert sind. Es ist ein Angriff auf das Recht auf eine unverfälschte Stimmabgabe und ein Angriff auf die Qualität der Direkten Demokratie.
Ganz abgesehen davon ist die Idee natürlich höchst fragwürdig, dass es ein Spannungsfeld gebe zwischen (Direkter) Demokratie und Menschenrechtsschutz. Demokratie und Menschenrechte verstärken sich gegenseitig in vielfältiger Weise. Demokratie ist nur möglich, wo die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit und weitere Menschenrechte gut geschützt sind und Grundrechtseingriffe müssen demokratisch abgesichert sein, damit sie rechtlich haltbar sind. Ein gut ausgebauter Grundrechtsschutz kann daher einen Staat zur demokratischen Absicherung seiner Grundrechtseingriffe zwingen.
Beispiel
Ein schönes Beispiel hierfür ist eine andere Vorlage, die am 25. November ebenfalls zur Abstimmung gelangt. Das Referendum gegen die Versicherungsspione. Diese kam nur zu Stande, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg befand, für so schwere Grundrechtseingriffe wie Versicherungsspione fehle es in der Schweiz an einer demokratisch legitimierten gesetzlichen Grundlage (das Parlament, der Bundesrat und das Bundesgericht hatten sich zuvor nicht gestört an diesem Mangel an demokratischer Absicherung). Es ist also die EMRK gewesen, die hier notwendig war für die Behebung eines Demokratiedefizites. Dass nun das Referendum zusstande gekommen ist, beweist, dass viele Menschen im Land sich eine demokratische Auseinandersetzung zu diesem Thema wünschen.
Dem Stimmvolk werden Kompetenzen entzogen
Die Initiative führt dazu, dass die Aufteilung der Kompetenzen und des Einflusses und der Macht der verschiedenen Staatsgewalten entschieden verschoben wird. Offiziell geht es den Initianten darum, dem Volk Macht zurückzugeben, die ihm das Bundesgericht angeblich durch eine Praxisänderung (die es ebenfalls nur angeblich gibt) gestohlen habe. Doch eintreten würde das Gegenteil. Das Stimmvolk würde geschwächt, Bundesrat, Parlament und Bundesgericht würden massiv gestärkt.
Bundesrat und Parlament würden gegenüber der Bevölkerung gestärkt. Neu wären es sie (bzw. entweder Parlament oder Bundesrat) die darüber befinden würden, ob ein Vertrag gekündigt wird oder nicht, dem das Volk zugestimmt hatte. Wer bisher für die Kündigung völkerrechtlicher Verträge zuständig ist, ist unklar (die Frage soll demnächst im Parlament geklärt werden). Es gibt aber gute Argumente dafür, dass nur die Stimmbevölkerung einen Vertrag wieder kündigen kann, wenn er nur durch die Zustimmung der Stimmbevölkerung ratifiziert werden konnte. Das entspricht dem einfachen Prinzip, dass er Widerruf eines demokratischen Entscheides mindestens gleich gut demokratisch legitimiert sein muss, wie der Entscheid, den er widerruft. Mit der Annahme der Initiative wäre das anders. Neu könnte auch eine Initiative, die in der die Frage der Kündigung offen gelassen worden ist (z.T. aus strategischen Gründen von den Initianten selber offen gelassen, s.o.) zur Kündigung eines völkerrechtlichen Vertrages führen, dem das Volk zu einem früheren Zeitpunkt zugestimmt hatte. Entweder Bundesrat oder Parlament oder beide müssten neu entscheiden, ob die Volksinitiative mit eineme völkerrechtlichen Vertrag in Konflikt stehe oder nicht (was im Einzelfall eine schwierig zu beantwortenden Frage sein kann). Noch dazu müssten sie auch entscheiden, ob daraus nun ein Kündigungsauftrag hervorgehe. Hinzu kommen noch die Fragen, ob und wann eine allfällige Neuverhandlung eines Vertrages gescheitert sei oder ob ein allfällig erzielter Kompromiss, der mit einem Vertragspartner erzielt worden sei genüge, um den Widerspruch mit der Verfassung zu beheben. Wiederum Fragen, die alles andere als einfach zu beantworten sind. Bisher war es nach einer verbreiteten Auffassung alleine die Stimmbevölkerung, der die Beantwortung dieser Fragen zustand. Diese Kompetenz würde das Volk mit der Annahme der Initiative an Parlament und Bundesrat abgeben.
Auch die Macht des Bundesgerichtes gegenüber der Macht des Stimmvolkes würde durch die Initiative gestärkt. Sie würde zu einem Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit führen. Bisher stand es dem Bundesgericht nicht frei zu entscheiden, ob es völkerrechtliche Verträge im Einzelfall anwende oder nicht. Die Verfassung hielt klar fest, dass es dazu verpflichtet sei. Neu wäre das nicht mehr der Fall. Das Bundesgericht müsste selber entscheiden, ob ein Vertrag dem Referendum unterstanden hatte. Das mag sich anhören nach einer einfachen, selbstverständlichen Frage, ist es aber nicht. Es gibt Verträge, von denen nur einige Teile dem Referendum unterstanden, z.B. wichtige Zusatzprotokolle. Andere Teile hingegen nicht. Die EMRK ist ein Beispiel für einen solchen Vertrag. Die Frage, ob der Vertrag als ganzes behandelt werde, als habe er dem Referendum unterstanden, oder nicht, ist vollkommen offen. Das Bundesgericht - nicht mehr das Volk - wird sie entscheiden müssen. Auch die Frage, ob die Anwendung eines völkerrechtlichen Vertrages auf einen Einzelfall zu einer Verletzung der Verfassung führe und daher unterbleiben müsse (wenn der Vertrag nicht dem Referendum unterstanden hatte) ist eigentlich immer auslegungsbedürftig und eine Frage, die vom Bundesgericht neu in entscheidender Weise beantwortet werden müsste. Schliesslich stellt sich noch die Frage, wie mit Entscheiden umzugehen ist von internationalen Gerichten, die für das Bundesgericht an sich verbindlich sind, von denen es aber findet, sie verstiessen gegen die Verfassung. Wiederum ist die EMRK mit ihrem Gerichtshof hier das wichtigste Beispiel. Die Umsetzung von dessen Entscheiden ist für das Bundesgericht an sich verpflichtend, auch nach Landesrecht (Art. 122 BGG). Wie das Bundesgericht damit umgeht, dass die Verfassung neu etwas anderes verlangen würde, ist erneut vollkommen offen. Wenn das Bundesgericht einen Konflikt zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und der Verfassung feststellen würde, dann würde es neu dem Parlament oder dem Bundesrat - nicht mehr dem Volk - ein Zeichen geben müssen, sie stünden in der Pflicht den entsprechenden Vertrag zu kündigen (vorher noch neu zu verhandeln zu versuchen). All dies sind auch zutiefst politische Fragen. Ihre Beantwortung durch ein demokratisch möglichst gut legitimiertes Gremium wäre daher wünschenswert. Neu würden dies Kompetenzen aber vom Souverän selber an das indirekt demokratisch legitimierte Bundesgericht weiter gegeben.
Der Anlass für die Initiative und ihr unmittelbares Ziel betrifft die EMRK. Es geht darum, die EMRK in gewissen Fällen nicht mehr anwenden zu müssen (sie also zu verletzen). Die EMRK ist ein europäischer Mindeststandard zum Schutz der Menschenrechte. Die Staaten, die ihre Mitglieder sind, dürfen im Schutz der Menschenrechte weitergehen als die EMRK, aber sie dürfen diese nicht unterschreiten. Es geht der Initiative also darum, einen europäischen Mindeststandard im Schutz der Menschenrechte unterschreiten zu können. Die Initianten rechtfertigen das damit, dass die Schweiz einen eigenen Grundrechtskatalog habe und ihr die Verletzung der EMRK nicht schade. Aber das ist falsch. Erstens geht es natürlich darum, die Grundrechte zu schwächen, das ist ganz unvermeidbar, wenn ein europäischer Mindeststandard unterschritten werden soll. Zweitens ist die Schweiz für ihren Grundrechtsschutz nach wie vor auf die EMRK angewiesen und drittens braucht auch die EMRK die Schweiz.
Ein Bundesgerichtsurteil, das unter Bezug auf die EMRK zu Stande kam – es betraf in jenem Fall einen straffälligen Ausländer – war der Auslöser der Initiative. Das ursprüngliche Ziel der Initiative ist es, dass das Bundesgericht und andere Gerichte in solchen Fällen den Standard der EMRK unterschreiten können. In diesen Fällen, um die es der Initiative gerade geht, würden also die Menschenrechte sehr wohl und gezielt geschwächt.
Die EMRK hat den Grundrechtsschutz in der Schweiz grundlegend verbessert
Es trifft zwar zu, dass die Schweiz in ihrer Verfassung ebenfalls einen Grundrechtskatalog hat, der dort, wo er die gleichen Rechte schützt, wie die EMRK, auch etwa gleich weit geht, wie diese. Das hängt daran, dass der Grundrechtskatalog in unserer Verfassung, der jünger ist, als die EMRK, stark von dieser beeinflusst ist. Aber wichtiger als die zusätzlichen Grundrechte in der EMRK ist das zusätzliche Verfahren, das die EMRK zur Verfügung stellt. Dieses verbessert den Menschenrechtsschutz in der Schweiz nach wie vor substantiell und diese Verbesserung teilweise rückgängig zu machen ist Ziel der Initiative. Das zusätzliche Verfahren hat eine doppelte Wirkung. Zunächst ermöglicht das Verfahren es immer wieder Menschen trotzdem noch zu ihrem Recht zu kommen, die in der Schweiz aus politischen oder strukturellen Gründen eine Ungerechtigkeit oder Erniedrigung nicht beheben lassen konnten, weil keine Behörde oder kein Gericht bereit war, ihnen Recht zu geben. Solche Fälle sind zwar sehr selten aber dennoch extrem wichtig, weil sie in einem Fall einen grundsätzlichen Missstand beheben (z.B., dass der Richter auch dann noch als unbefangen gilt, wenn er der Bürokollege des Gegenanwaltes ist oder dass der Untersuchungsrichter auch über den Verbleib in der Haft entscheidet). Diese wichtigen Fortschritte sind nur möglich, weil man bis nach Strassburg gelangen kann. Es ist wegen solcher Fällen, dass die EMRK immer wieder Verbesserungen für das Schweizer Rechtssystem und die Rechte des Einzelnen bewirkt hat, die in der Summe sehr wichtig geworden sind. Hinzu kommt dann zweitens, dass alle Behörden und Gerichte in der Schweiz wissen, dass eine Rechtssuchende, mit der sie zu tun haben, nach Strassburg gelangen könnte, wenn ihr Unrecht geschieht. Das hat eine enorm wichtige Präventivwirkung. Wäre diese weg, würde der Menschenrechtsschutz in der Schweiz durchs Band schlechter. Nicht nur in jenen sehr seltenen Fällen, in denen jemand in Strassburg tatsächlich Recht erhielte.
Die EMRK ist in ganz Europa – und als Goldstandard auch weltweit – eine sehr wichtige Konvention. In der Schweiz aber erfüllt sie zum Schutz unserer Rechte eine ganz besonders wichtige Funktion. Das hat zwei Gründe; der Umstand, dass die Grundrechte in der Verfassung sehr leicht abgebaut werden können und der Umstand, dass diese vor Gericht nicht gegen Bundesgesetze geltend gemacht werden können, weil die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt für Bundesgesetze. Der erste dieser beiden Punkte hat zur Folge, dass die Grundrechte in der Schweiz auf viel wackeligeren Füssen stehen, als in anderen Staaten, deren Verfassung nur sehr schwer geändert werden kann (oder in denen der Abbau von Grundrechten sogar verboten ist). In der Schweiz reicht dafür eine Volksinitiative, die in der Hitzigkeit des Momentes erfolgreich war. Hiergegen eine zusätzliche Sicherung zu haben, ist in der Schweiz darum besonders wichtig.
Auf dem Papier nützen Grundrechte nichts. In der Schweiz können aber Grundrechte, wie sie in der Verfassung garantiert sind, nicht angerufen werden, wenn man sich durch ein Bundesgesetz in ihnen verletzt fühlt. Das hängt daran, dass die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen kennt, dass Bundesgesetze also selbst dort angewendet werden müssen, wo sie anerkanntermassen verfassungswidrig sind, also auch, wo sie anerkanntermassen Grundrechtswidrig sind. Mit der EMRK ist das anders: Weil der Gerichtshof in Strassburg die EMRK auch gegen Bundesgesetze aufrecht erhalten würde, kann das auch gleich das Bundesgericht selber machen (das hat es in der sog. PKK-Praxis festgehalten) und den Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht verhelfen, selbst gegen ein Bundesgesetz. Die EMRK füllt also in der Schweiz eine Rechtsschutzlücke, die viel grösser, als in anderen Mitgliedstaaten.
Die Annahme der Initiative würde dazu führen, dass die Schweiz die EMRK regelmässig verletzten müsste und darauf bestehen müsste, sie verletze diese zu recht, schliesslich werde sie durch ihre Verfassung dazu verpflichtet. An sich müsste die Schweiz die EMRK auch kündigen und mit dieser Kündigung drohen. Mit einem Wort: Die Schweiz müsste die EMRK zur Disposition stellen, sie müsste diesen enorm wichtigen Vertrag international in Frage stellen. Damit würde die EMRK nicht nur in der Schweiz geschwächt, sondern überall. Für die anderen Mitgliedstaaten, und weltweit für all jene Staaten und Organisationen, denen die EMRK als Standard eine wichtige Orientierungshilfe wäre. In Zeiten, wo die Demokratie und die Menschenrechte in Europa unter Druck sind, in Russland, in der Türkei, in Ungarn, in Polen, würde die Schweiz ohne Not das wichtigste Bollwerk gegen grausame Behandlung und Folter, gegen politische Gefangene, gegen eine Gängelung unabhängiger Medien, gegen eine Unterdrückung religiöser Minderheiten schwächen. Die Schwächung eines Schutzinstrumentes auch für jene, die noch viel dringender darauf angewiesen sind, als wir, kann uns nicht egal sein, bloss, weil das im Ausland passiert. Wer ein internationales System unterminiert, muss auch internationale Verantwortung übernehmen.
So wichtig die EMRK für den Menschenrechtsschutz in der Schweiz ist und so klar sie im Fadenkreuz dieser Initiative steht, so ist es auch wichtig, den Blick nicht bloss auf die EMRK zu verengen. Auch wenn die Schweiz im Extremfall die EMRK kündigen würde, wäre sie völkerrechtlich noch an vergleichbare Standards geknüpft. Die ergeben sich etwa aus dem UNO-Pakt für bürgerliche und politische Rechte, der UNO-Kinderrechtskonvention oder der Anti-Folterkonvention. Das zeigt: Die Zeit, in der die Schweiz menschenrechtliche Mindeststandards ohne Konsequenzen unterschreiten konnte, sind vorbei.
Die Selbstbestimmungsinitiative ist ein Beispiel für die gefährliche Tendenz, Demokratie und Menschenrechte als ein Spannungsfeld darzustellen. Je mehr Menschenrechte, desto weniger Demokratie, suggeriert sie. Daher müssen wir die Menschenrechte zurückdrängen, um wieder mehr Demokratie zu ermöglichen. Aber Demokratie und Menschenrechte stehen nicht zueinander in einem Spannungsfeld sondern bedingen und verstärken einander gegenseitig. Demokratie setzt voraus, dass alle sich eine Meinung bilden und alle eine Meinung äussern können, was nur mit Menschenrechten möglich ist. Umgekehrt müssen nicht-demokratische Staaten zwingend früher oder später ihre Macht gegen den Widerstand von Menschen mit anderer Meinung durchsetzen, was nur unter der Verletzung von Menschenrechten möglich ist. Menschenrechte und Demokratie brauchen einander also und verstärken sich gegenseitig. Wenn der Schutz der Menschenrechte demokratischen Entscheiden gewisse Limiten auferlegt, so dient das nicht nur den Menschenrechten zum Schaden der Demokratie, auf lange Sicht dient das auch dem Erhalt und der Pflege der Demokratie.
Auch der internationale Menschenrechtsschutz kann der Demokratie wichtige Impulse geben. Ein Beispiel dafür ist das Referendum gegen die Versicherungsspione in der Schweiz, das am gleichen Datum, wie die Selbstbestimmungsinitiative zur Abstimmung gelangt. In dieser Frage hat es das Schweizer Parlament und der Bundesrat nicht einmal für nötig befunden, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Erst der EGMR in Strassburg hat verlangt, dass für so schwere Grundrechtseingriffe eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein müsse. Dass gegen diese nun erfolgreich das Referendum zustande gekommen ist, zeigt, dass das Thema auf grosses Interesse in der Bevölkerung stösst und eine demokratische Debatte dazu daher überfällig war. Dabei ist es unerheblich, wie man persönlich zu Versicherungsspionen steht. Demokratische Debatten haben einen grossen Eigenwert, weil sie eine öffentliche Auseinandersetzung, eine Willensbildung und eine Information der Bevölkerung ermöglichen. In diesem Fall hat es dazu ein Urteil eines internationalen Gerichtes gebraucht.
Gegen die Schweizer Interessen
Nebst den grundlegenden Werten, welche die Initiative verletzt, wie besonders unsere Grundrechte und die Zuverlässigkeit der Schweiz, unterminiert sie nicht zuletzt auch unsere Interessen und die Interessen des Werkplatzes und Chancenlandes Schweiz. Viele völkerrechtliche Verträge wirken heute so reibungslos und so im Verborgenen, dass uns ihre Wichtigkeit erst dann bewusst würde, wenn sie fehlen täten. Der Verkehr, der Datenaustausch, der Handel, die Abwicklung von Steuer- und Sozialversicherungsfragen über Grenzen hinweg; sie alle und noch viel mehr hängt von internationalen Verträgen ab. Je mehr sich unser Leben, unsere wirtschaftliche Tätigkeit international verflicht, desto eher sind wir auf sie angewiesen. Diese Verträge stehen zum allergrössten Teil nicht in Konflikt mit der Bundesverfassung und werden daher nicht einfach entfallen bei der Annahme der Initiative. Aber ihre Anpassung und Neuverhandlung werden schwieriger, wenn sie angepasst werden müssen. Die Frage der Vertragspartner wird dann immer sein: Aber hält ihr euch daran? Wie können wir neu noch sicher sein? Warum sollten wir euch ein Zugeständnis machen, wenn wir nicht sicher sein können, von euch ebenfalls eine verbindliche Zusage zu erhalten? Die Schweiz hätte es schwieriger, ihre Interessen und die Interessen ihres Werkplatzes durch internationale Zusammenarbeit zu verfolgen.
Dieser Nachteil der Schweiz im Verfolgen ihrer eigenen Interessen durch Zusammenarbeit würden nicht sofort sichtbar. Die Initiative wäre für unsere Interessen ein langsam wirkendes Gift. Hier könnten wir einen Vertrag nur mit Verspätung den neuen Bedürfnissen anpassen, dort würde uns ein Freihandelsvertrag entgehen, hier müssten wir etwas extra drauflegen, damit es zu einem Abschluss kommt, hier hätten wir einen offenen Konflikt mit einem wichtigen Partnerland, der nicht beigelegt werden kann. Je länger der Zustand andauern würde, desto mehr Konflikte wären ungelöst, desto mehr Verträge hiengen in der Schwebe, desto mehr stünde die Schweiz überall in der Welt im Rufe, ein unzuverlässiger, unredlicher Vertragspartner zu sein.
In der Staatengemeinschaft ist es wie auf dem Pausenhof. Den Starken ist es egal, wenn das Recht des Stärkeren gilt. Sie können ihre Interessen besser durchsetzen, wenn sie sich nicht an Regeln zu halten brauchen und stattdessen einfach Tatsachen schaffen können. Die Kleinen hingegen, die sind auf die Herrschaft des Rechts angewiesen, wenn sie sich ihrer Position sicher sein wollen, wenn sie kooperieren wollen, besonders, wenn sie mit den Grossen kooperieren wollen. Wenn ein Staat, wie die Schweiz gleichzeitig klein und sehr vernetzt ist, ist er doppelt auf die internationale Herrschaft des Rechts angewiesen. Ein Staat, der Verträge mit anderen aber routiniert und automatisch bricht, der signalisiert gegenüber der Staategemeinschaft auch, dass er von einer internationalen Herrschaft des Rechts nicht allzuviel hält und sich die “Souveränitätsanarchie” zurück wünscht, in der Regeln zwischen Staaten nur solange gelten, bis sie gebrochen werden. Kein Staat könnte sich damit ein grösseres Eigentor schiessen, als die Schweiz.
Worum es nicht geht
Stärker als bei den meisten anderen Volksinitiativen, werden bei dieser Initiative Themen aufgeworfen, die mit der Initiative nichts oder fast nichts zu tun haben. Das hat mit der grossen Komplexität des Themas zu tun und damit, dass das eigentliche Ziel der Initiative – die Unterschreitung menschenrechtlicher Mindeststandards und die Möglichkeit, alle drei Staatsgewalten fortwährend angreifen zu können – so unattraktiv sind für eine politische Kampagne. Es folgt darum eine Liste von Dingen, mit denen die Initiative nichts zu tun hat. Anschliessend wird zu allen Punkten kurz erläutert, warum sie zu dieser Initiative sachfremd sind: Fremde Richter, die Rettung der Direkten Demokratie; die Stärkere demokratische Beteiligung der Stimmbevölkerung an völkerrechtlichen Entscheidungen; eine Wiederherstellung einer Praxis, die bis 2012 angeblich selbstverständlich war, insbesondere geht es nicht um die sog. Schubert-Praxis; um die Übernahme technischer Standards und Empfehlungen; um ein Rahmenabkommen oder um einen Wechsel vom Monismus zum Dualismus.
Die Schweiz untersteht nirgends, durch keinen einzigen Vertrag fremden Richtern. Zwar ist sie Mitglied einiger internationalen Organisationen mit Gerichten (z.B. der UNO mit dem Internationalen Gerichtshof oder dem Europarat mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte), aber bei diesen Organisationen ist sie ja eben Mitglied. Es sind also gemeinsam Richter, nicht fremde Richter.
Die Direkte Demokratie in der Schweiz ist nicht in Gefahr. Es steht alles nach wie vor zur Disposition der Stimmbevölkerung und der Stände. Ausser das zwingende Völkerrecht, das auch von dieser Initiative ausdrücklich ausgenommen ist. Von jedem Vertrag, den die Schweiz eingegangen ist, kann das Stimmvolk ohne Weiteres die Kündigung verlangen und sich damit von der Bindung lösen, die der Vertrag uns auferlegt und von den Regeln die er enthält. Insofern ist das Völkerrecht schlicht keine Bedrohung für die Direkte Demokratie und muss nicht von ihm gerettet werden. Zwar stimmt es, dass die internationale Regulierungsdichte zunimmt. Aber wir entscheiden immer noch selber, wo wir mitmachen und wo nicht. Es stimmt auch, dass sich der Preis zunehmend erhöht dafür, wenn man nicht mitmachen möchte. Die Chancen, die einem dadurch entgehen, werden grösser, der Schaden, den man davon hat auch. Aber ob wir diesen Preis bezahlen möchten oder nicht, das bestimmen wir weiterhin selbständig. Daran hat sich nichts geändert.
Zuweilen wird argumentiert, wenn das Völkerrecht wichtiger werde (was es wird), dann müsse das Stimmvolk auch besser an den Entscheiden beteiligt werden, ob wir völkerrechtliche Verpflichtungen eingehen oder nicht. Das stimmt. Wir würden auch gerne öfter über die EIngehung oder die Auflösung völkerrechtlicher Verpflichtungen mitbestimmen können. Nur hat das nichts mit dieser Initiative zu tun. Die Initiative verbessert in keiner Weise die Beteiligung der Stimmbevölkerung an Beschlüssen über internationale Verträge. Sie betrifft lediglich die Abstimmung über Verfassungsänderungen, nicht über Verträge. Die Beteiligung der Bevölkerung an völkerrechtlichen Entscheidungen würde sogar verschlechtert. DIe Initiative würde ja dazu führen, dass Verträge gekündigt werden müssen, über deren Ratifizierung das Stimmvolk abstimmen konnte, deren Kündigung aber erfolgt, ohne dass das Volk gefragt wurde und ohne dass die Kündigung mehrheitsfähig wäre.
Die Initianten machen gerne geltend, bis 2012 sei das, was sie fordern eine Selbstverständlichkeit gewesen, und dann von einem Bundesgerichtsurteil, das sie als einen stillen Staatsstreich empfinden, ohne demokratische Legitimation umgekehrt worden. Aber die Volksinitiative betrifft das Verhältnis von Völkerrecht und Verfassungsrecht. Hierzu gab es keine Praxis, nur unterschiedliche Meinungen. Im richtigen Leben hat sich das Problem bis vor Kurzem so selten gestellt, dass es keinen Bundesgerichtsentscheid dazu gab. Was es gab, war der sog. Schubert-Entscheid aus den frühen 70er Jahren, der für das Verhältnis von Bundesgesetzen und Völkerrecht unter sehr bestimmten Bedingungen vorsah, dass das Gesetz dem völkerrechtlichen Vertrag vorgehe und der Vertrag daher verletzt werden müsse. Der Entscheid ist so aber seither nie mehr wiederholt worden. Die Bedingungen für seine Anwendung sind lediglich immer strenger gefasst worden. Aber die Rechtsprechung ist weder 2012 aufgehoben worden, noch würde die Initiative die Aufhebung rückgängig machen. Sie betrifft ein ganz anderes Verhältnis, jenes zwischen der Verfassung und Verträgen, nicht jenes zwischen Gesetzen und Verträgen.
Vor allem bezüglich des EU-Rechtes gibt es zahlreiche Anekdoten, was dieses nicht alles Regle. Die Gurkenkrümmung, den Traktorsattel, die Grösse des Klodeckels. Und wir müssten das alles übernehmen, damit müsse nun Schluss sein. Wo solche Geschichten nicht ohnehin stark übertrieben sind, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Verpflichtung zur Übernahme ergibt sich aus einem völkerrechtlichen Vertrag, dann haben wir uns selber nach einem demokratisch legitimierten Verfahren zu deren Übernahme entschlossen, oder die Übernahme hat nichts mit einer völkerrechtlichen Pflicht, sondern mit einem ökonomischen Sachzwang zu tun. Letzteres ist oft der Fall. Wenn grosse Regulatoren, wie die USA oder die EU neue Standards erlassen, haben exportorientierte kleine Staaten wir die Schweiz zwei Möglichkeiten: Entweder sie übernehmen diese neuen Standards, oder Produkte können nicht dorthin exportiert werden. Dass wir keine Wahl haben, ist bedauerlich, aber es besteht keine rechtliche Pflicht zur Übernahme, sondern ein ökonomischer Druck. Für diesen ist es völlig egal, wo wir das Völkerrecht im Verhältnis zum Landesrecht platzieren. Der ökonomische Sachzwang wird so oder so nicht weggehen.
Gerne wird die Initiative dargestellt als Bollwerk gegen ein Rahmenabkommen mit der EU. Doch der Zusammenhang ist unklar. Ein Rahmenabkommen ist heute schon enorm schwierig, abzuschliessen und so zu gestalten, dass es in der Schweiz mehrheitsfähig ist. Nach der Annahme der Initiative würde dessen Abschluss zwar noch schwieriger (wie der Abschluss von Verträgen überhaupt erschwert würde), aber in keiner Weise verunmöglicht. Sowohl die dynamische Rechtsübernahme bliebe an sich möglich, als insbesondere auch die Unterstellung unter den europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH), dem die Schweiz nicht angehört und der daher tatsächlich so etwas wie ein fremdes Gericht wäre. Insbesondere bliebe es möglich, vom Vorrang des Verfassungsrechtes vor dem Völkerrecht eine Ausnahme zu machen für das Recht des Rahmenabkommens, so wie auch die EU-Mitgliedstaaten dem Recht der EU einen Vorrang - auch vor ihrer Verfassung – einräumen müssen, damit das europäische Projekt, damit sein Binnenmarkt und seine politischen Institutionen funktionieren können.
Eine Frage, die oft mit dem Rang des Völkerrechts vermischt wird, ist, wie das Völkerrecht im Landesrecht Geltung erlangt. Es gibt Staaten, die das Völkerrecht und das Landesrecht als Teil einer einheitlichen Rechtsordnung auffassen (Monismus) und andere Staaten, die das Völkerrecht und das Landesrecht als getrennte Rechtsordnungen auffassen und das Völkerrecht jeweils in Landesrecht “umgiessen” müssen, ehe es innerstaatlich anwendbar ist (Dualismus). Die Schweiz ist ein monistisches Land und oft wird die Idee ins Spiel gebracht, zum Dualismus zu wechseln, weil man im Prozess des “Umgiessens” ins Landesrecht noch einen “Swiss finish” durchführen, und gewisse Dinge nicht mit umgiessen könnte, die mit dem Landesrecht in Konflikt sind. Aber ein solcher selektiver Prozess, der dann zum Beispiel dazu führen würde, dass man gewisse menschenrechtliche Garantien nicht übernähme würde die Pflichten aus dem völkerrechtlichen Vertrag verletzen, womit man wieder bei der Frage des Ranges des Völkerrechts gegenüber dem Landesrecht ist. Dieser Frage, und dem Umstand, dass das Völkerrecht verlangt, dass Verträge eingehalten werden, könnte auch der Dualismus nicht entrinnen. Es ist also eine Sachfremde Frage.