Europapolitische Oldies-Band will back to the 70s

Gegen die europapolitische Oldies-Band braucht es eine Zukunftsallianz

Der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen war ein wichtiger Etappensieg für die Gegner eines zeitgemässen Zugangs zum europäischen Binnenmarkt. Noch ist der Match jedoch nicht entschieden: Eine europapolitische Zukunftsallianz kann ihn gewinnen. Nur eine Volksinitiative baut den notwendigen Druck auf, uns mit komplexen Zusammenhängen auseinanderzusetzen und eine mehrheitsfähige Europa-Allianz zu bilden.

An diesem Sonntag wird in der Stadt Zürich gewählt. Wie vor jeder Wahl findet über Smartvote ein digitales Speeddating zwischen Wähler*innen und Kandidat*innen statt. Neben Fragen zu sehr lokalen Herausforderungen gibt es wieder zwei Fragen zur europapolitischen Haltung. Bei früheren Wahlen hiess die Gretchenfrage noch «Soll die Schweiz Verhandlungen über den Beitritt zur EU aufnehmen?». Heute wird die Frage mit umgekehrten Vorzeichen gestellt, und zwar “Soll die Schweiz die bilateralen Verträge mit der EU durch ein Freihandelsabkommen ersetzen (nach dem Vorbild des Brexit-Abkommens zwischen Grossbritannien und der EU)?”. 

Die Frage ist bei den Umfrageinstituten zwar im Trend, die Antwort darauf bei der Gesamtbevölkerung allerdings deutlich weniger: Nur 13% der Befragten liebäugeln gemäss der letzten Tamedia-Umfrage mit dieser Option, bei einem Rahmenabkommen sind es mehr als doppelt so viele. Warum ist dann das Freihandelsabkommen überhaupt im Spiel? Warum ist diese Dynamik gefährlich? Und warum braucht es eine Zukunftskoalition für eine europapolitisch handlungsfähige Schweiz?

Ein Nostalgieprogramm für unsere Zukunft?

«Back to the Seventies» tönt nach einem guten Konzept für eine Ü-50-Party – für die zukünftige Europapolitik der Schweiz wohl eher nicht.

Till Burckhardt
Till Burckhardt, Operation Libero

Beim Vorschlag “Freihandelsabkommen” geht es genau darum. Ein solcher Vertrag besteht nämlich schon seit 1972 – und schon 15 Jahre danach galt er als überholt. Die Zölle für Industrieprodukte wurden zwar abgeschafft – die bürokratischen Hürden an den Grenzen blieben bestehen, bis sie über die Bilateralen I endlich abgebaut werden konnten. Seitdem der Bundesrat ohne Backup-Plan das Rahmenabkommen in die Tonne getreten hat, wurde dieses Nostalgieprogramm nun plötzlich zur aussichtsreichsten Alternative zum zerbröckelnden Stillstand aufgewertet.

Es zeichnet sich heute eine breite Koalition ab, die einen beschleunigten Rückbau des Bilateralen Weges ausdrücklich in Kauf nimmt. Ohne regelmässige Anpassung werden die Verträge obsolet – und dann bleibt faktisch das Freihandelsabkommen. Schweizer Standards werden nicht mehr anerkannt. Die Zusammenarbeit im Forschungs-, Bildungs- und Kulturbereich fällt aus. Und Auslandschweizer*innen müssen sich im Alltag mit Rechtslücken durchschlagen – weil ihre Aufenthalts- und Sozialrechte in obsolet gewordenen Gesetzen definiert sind. Die Schweiz verliert ihre Handlungsfähigkeit.

Die (un)schlagbare Oldies-Band

Die Zustimmung zu diesem Nostalgieprogramm lässt sich nicht allein über eine Ballenberg-Romantik erklären. Sie widerspiegelt die handfeste Interessenlage vieler Wirtschaftsakteure unseres Landes. Die Hochpreis- und Hochlohninsel ist für viele eine tägliche Herausforderung: Nicht alle Arbeitnehmenden und Unternehmungen sind innovativ oder spezialisiert genug, um in einem offenen Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Viele profitieren kurzfristig von protektionistischen Hürden oder von Regulierungslücken – selbst wenn sich solche Schutzschilder und Schlupflöcher in aller Regel langfristig nicht bewähren (Bankgheimnis, weisch no?).

Prominente Vertreter des Nostalgieprogramms sind:

  • Pierre-Yves Maillard, SP-Nationalrat und Gewerkschaftsboss, und Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Gewerbeverbands und abgewählter FDP-Nationalrat
  • Fredy Gantner, schrillender Investor und emeritierter mormonischer Bischof aus Zug (a.k.a Bahamas-on-the-Rocks) – professionell unterstützt von teuren Lobbyisten
  • ein Trüppli von Patrons der alten Schule (Autonomiesuisse). Ihnen ist die  “Regulierungswut” im Sinne eines Umwelt-, Gesundheits- und Menschenrechtsschutz aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen, weltanschaulicher Überzeugungen oder beidem zusammen ein Dorn im Auge.

Der gemeinsame Nenner dieser Oldies-Band besteht darin, dass sie einen beeinträchtigten Zugang zum europäischen Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitsmarkt in Kauf nehmen würde, um sich vor unerwünschten Entwicklungen im EU-Recht zu schützen – wie wenn das genügen würde, um für immer und ewig in einer Welt von gestern zu leben. Sie sind professionelle Rent-Seeker. Spezialisten darin, ihre spezifischen Interessen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit durchzusetzen. 

Der Leergang des Bundesrates

Die bisherige “Fünfer-und-Weggli”-Politik des Bundesrats wollte die Interessen dieser Oldies-Band über rote Linien berücksichtigen – und gleichzeitig zukunftsorientierte Abkommen im Forschungs-, Strom- und Gesundheitsbereich abschliessen. Obwohl die verschiedenen EU-Behörden, die Mitgliedstaaten und die wichtigsten Sachverständigen schon seit nahezu 20 Jahren sagen, dass massgeschneiderte Ausnahmen nicht in Frage kommen.

Nachdem der Gesamtbundesrat nach einem siebenjährigen Hin-und-Her in Sachen Marktöffnung endgültig zwischen dem Vorwärts- und dem Rückwärtsgang entscheiden musste, wählte er nach unzähligen Sitzungen den neutralen Leergang – ohne jedoch die Handbremse zu aktivieren. Da der bilaterale Weg eine eher steile Passstrasse ist, fährt jetzt die Schweizer Europapolitik unkontrolliert rückwärts ins Tal. Für die Nostalgikerkoalition ein wichtiger Etappensieg. Rückwärts ist ihre Wunschrichtung.

Die grösste Gewinnerin der Bilateralen ist die Schweizer Bevölkerung

Für die innovative, unternehmungslustige und fortschrittliche Schweiz war die Kapitulation des Bundesrats ein herber Rückschlag. Der Leergang auf der Passstrasse führt dazu, dass Errungenschaften wie die Beteiligung am Forschungsraum oder die Anerkennung der Medtech-Produkte schnell verloren gehen. Und das ist erst der Anfang einer Abwärtsspirale.

Es geht um viel. Die grösste Gewinnerin der Bilateralen ist die Schweizer Bevölkerung. Nirgends in Europa profitiert eine Bevölkerung stärker vom Binnenmarkt als in der Schweiz.

Till Burckhardt
Till Burckhardt, Operation Libero

Über die Personenfreizügigkeit kann sie europaweit Ausbildungs-, Berufs- und Lebenschancen frei wahrnehmen. Über den Grundsatz des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort kann sie in der Schweiz mit einem freien und fairen Arbeitsmarkt zählen, ohne fremdenpolizeiliche Steuerung und ohne Lohndumping.

Wo bleibt die Zukunftsallianz?

Die grösste Gefahr für die Schweiz ist heute nicht die bunte Nostalgikerkoalition, sondern die Unfähigkeit der fortschrittlichen Schweiz, sich schlagkräftig für eine dynamische Beziehung mit der Europäischen Union einzusetzen. Es ist jetzt höchste Zeit, dass sich eine schlagkräftige Zukunftsallianz zusammenfindet. Und in einer offenen Diskussion die Chancen der Integrationsdynamik aufzeigt. 

In dieser breiten Interessengemeinschaft befinden sich alle Akteure der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft, der Politik und der Kultur zusammen, die den Wettbewerb in einem offenen Markt sowie strenge Klimaschutz-, Gesundheits- und Menschenrechtsauflagen nicht als Hürde, sondern als Chance im Sinne einer fairen Marktwirtschaft wahrnehmen. 

Wo also bleibt sie?

Nur eine Volksinitiative kann eine Debatte erzwingen

Da Bundesrat und Wirtschaftsverbände heute nicht mehr in der Lage sind, ihre historische Führungsrolle im Sinne einer fairen Marktöffnung zu übernehmen, muss sich die Zukunftsallianz andere Wege finden, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Im Schweizer Politsystem gibt es dazu ein wirkungsvolles Instrument: die Volksinitiative. Sie ermöglicht es, eine breit abgestützte Grundsatzdebatte – einen strategischen Richtungsentscheid – auszulösen.

Für die integrationswillige Zukunftsallianz wären die Unterschriftensammlung und die parlamentarischen Debatten eine ausgezeichnete Gelegenheit, um eine breite Europadebatte auszulösen. Mit eingefleischten Reduit-Nostalgikern, kompromisslosen Globalisierungsgegner*innen und fundamentalistischen Thatcher-Jüngern mag die Diskussion schwierig sein. Doch es ist nötig, sich intensiv mit den breit abgestützten Vorbehalten – insbesondere von Gewerkschafts- und Gewerbevertreter*innen – auseinanderzusetzen, um in der Europapolitik eine ausgewogene Lösung zu finden. 

Zukunftsallianz: Lust auf den Vorwärtsgang

Wie sonst können wir diese Debatte erzwingen? Oder wer sonst? Unsere Beziehungen zu Europa sind das grösste strukturelle Problem der Schweiz. Die Bundesratsparteien haben aus wahl-taktischen Überlegungen kein Interesse daran, die Debatte zu führen. Das wird sich jetzt nicht ändern, und auch nach den Wahlen 2023 nicht. Wir können es uns nicht leisten, diese wichtige und dringliche Frage einem orientierungslosen Bundesrat zu überlassen. Deshalb braucht es jetzt die europapolitische Zukunftsallianz für eine handlungsfähige Schweiz.

Es ist die Chance, um über einen ausgeklügelten Interessenausgleich und einen breit abgestützten Kompromiss die Europa-Allianz der Jahrtausendwende wieder aufzubauen, die innerhalb von wenigen Jahren mit den Bilateralen I und II den grössten europapolitischen Innovationsschub der Schweizer Geschichte erreicht hat. Es ist Zeit, wieder Lust zu entwickeln auf den Vorwärtsgang, auf das Weiterkommen. 


Verfasser: Till Burckhardt, Operation Libero