Humanitäre Hilfe für dein Gehirn – unsere 7 Argumente gegen Putins Krieg
Humanitäre Hilfe für dein Gehirn
Energie, Zuwanderung, Neutralität, Sicherheit – der russische Angriffskrieg hat seinen Weg in den Diskurs vor den Wahlen gefunden. Hier sind darum sieben der populärsten Propaganda-Argumente widerlegt.
Online-Schwurblis (aus der Familie der Querdenker (Lateralis Excogitatoris), Gattung der Umberto Eco Ur-Faschisten) lieben Putins Russland. Diese Realitätsskeptiker*innen verbreiten Desinformation in viralem Tempo. Dies ist eine Herausforderung für unsere Demokratie. Hier ist unser Gegenmittel.
Das demokratische Immunsystem funktioniert nicht über die Zensur von Falschinformationen, sondern über die rationale Auseinandersetzung, welche die giftigste Lüge unschädlich machen kann. Darum haben wir dir hier die argumentative Immunisierung von Dr. Klaus Gestwa, Professor für Osteuropäische Geschichte von der Universität Tübingen. Wirksamer Schutz gegen hirnschädigende Russen-Propaganda in sieben Punkten – und ganz ohne Piks.
Gefühltes Wissen 1: Die Nato hat Russland bedroht – Putin musste Russland verteidigen.
Ja, wir steigen steil ein. Die Nato ist natürlich gefundenes Fressen für Verschwörungserzählungen. Viele wissen so etwa, was die Nato ist. Halbwissen, das nur darauf wartet, in ein packendes und einfach fassbares Verschwörungsnarrativ eingebunden zu werden. Hier aber die Fakten zur Nato-Lüge: Nur weil Russland nach dem Ende der Sowjetunion noch nicht in europäische Sicherheitsarchitektur eingebunden wurde, ist das nicht gleich eine Bedrohung. Um den russischen Sicherheitsbedenken Rechnung zu tragen, wurden in den neuen Nato-Ländern nie mehr als 8000 Mann stationiert. Auch gegen die Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine wurden von Deutschland und Frankreich ein Veto eingelegt – um den russischen Sicherheitsinteressen entgegenzukommen. Dass Russland einen Angriff aus Verteidigungsgründen lanciert habe, ist eine Verzerrung der Tatsachen. Die «Denazifizierung» der Ukraine ist der Deckname für Putins Absichten: ein antidemokratischer Regimewechsel.
Gefühltes Wissen 2: Die Ukraine gehört historisch zu Russland
Putin hat in seiner Kriegserklärung eine Geschichtsstunde gehalten. Darin hat er Russland, die Ukraine und Weissrussland als untrennbar miteinander verbunden bezeichnet. Genau. Und Elsass/Lothringen und das Sudetenland gehören zu Deutschland. Und die halbe Welt gehört Grossbritannien, und der Maghreb-Gürtel gehört Italien (wegen den Römern). Aber jetzt mal ernsthaft: Die Ukraine ist seit 1991 (dem Zerfall der Sowjetunion) ein eigener Staat – basierend auf einem Referendum mit 91 % Befürwortung. Russland hat in verschiedenen Verträgen die territoriale Selbstständigkeit der Ukraine anerkannt. Was Putins Propaganda versucht, ist Völkerrecht durch imperiale Geschichtspolitik ersetzen. Historische Zugehörigkeit ist ein wunderbarer Kriegsgrund für Imperien, die wachsen wollen. Für ein modernes, demokratischen Land ist historische Zugehörigkeit eher ein Grund für Zusammenarbeit, als für Aggression. Der kenianische UN-Botschafter Martin Kimani fast es – mit Blick auf die Kolonialgeschichte – treffend zusammen: Er warnt davor, die hinterbliebene Glut toter Imperien und ihrer Ansprüche wieder anzufachen.
Gefühltes Wissen 3: Die Ukraine ist kein demokratischer Staat, sondern wird vom Westen und/oder von Oligarchen gesteuert
Die Ukraine hat Probleme mit Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Medienfreiheit. Zugleich war der Euromeidan die grösste europäische Demokratiebewegung, die es in Europa in den letzten 30 Jahren gegeben hat. Es war ein klares Zeichen für landesweites Interesse an einer demokratischeren Gesellschaft. Lange war die Ukraine zwischen Imperien gefangen. Der Weg zur selbstbestimmten Nation war ein mühsamer. Der Weg zum demokratischen Staat im 21. Jahrhundert ist noch einmal ein mühseliger. Diesen Weg haben die Russen nun in Blut und Leid getränkt. Auch, weil eine erfolgreiche, dem Westen zugewandte Ukraine eine Bedrohung für das Ansehen von Putins wirtschaftlich impotentem Regime ist. Darum ist es dem russischen Propagandaministerium auch so wichtig, dass die Legitimität der Ukraine angezweifelt wird. Aber die Ukraine ist ein selbstständiger Staat auf einem beeindruckenden Weg in eine Zukunft, für die man den Ukrainer*innen nur das Allerbeste wünschen kann.
Gefühltes Wissen 4: Wer Waffen liefert, befeuert den Krieg
Putin verlängert den Krieg. Er führt einen illegalen Angriffskrieg. Wenn er aufhört, ist der Krieg vorbei. Wenn Schweiz von einem grossen Nachbarn überfallen würde, würden die Kampfhandlungen auch nicht enden, wenn keine Munition mehr da ist, sondern einerseits, wenn Deutschland ablässt oder andererseits, wenn der letzte Mensch, der aktiv Widerstand leistet, beseitigt ist. Warum sollte das bei Ukrainer*innen anders sein? Die systematischen Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in Bucha, Borodjanka, Irpin und Mariupol (wo russische Truppen gleich mit mobilen Kremierungsanlagen einmarschiert sind) machen für Ukrainer*innen das Niederlegen der Waffen unzumutbar. Europa befindet sich nach einem epochalen Umbruch von der alten Ordnung der kriegerischen Imperien zur neuen Ordnung der supranationalen Abkommen und Institutionen. Dieser neue Frieden ist durch Angriffskriege bedroht, da erfolgreicher Landraub Nachahmer auf den Plan ruft.
Gefühltes Wissen 5: Die Schweiz soll sich auf ihre Neutralität besinnen
Zuerst: Was ist mit Neutralität gemeint? Es gibt verschiedene Ausprägungen, und wir – als Schweizer*innen – dürfen und sollen selbst entscheiden. Unser «Goldstandard» für Neutralität – die Schweiz im Zweiten Weltkrieg – ist dabei kein besonders praktisches Beispiel. Angriffskriege wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtlich verboten. Und von 1940 bis 1944 hat die Schweiz fast 14 Prozent ihres gesamten Warenexports mit Waffen- und Munitionslieferung verdient – 88 Prozent davon an Achsenmächte. Damit aber nicht genug: Die Schweiz hat im Zweiten Weltkrieg mehrmals die eigenen Neutralitätsgrundsätze gebrochen. Dieses ernüchternde Fazit ergeht aus dem Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Die Schweiz ist weiter darauf angewiesen, dass Grossmächte die Neutralität respektieren, sonst hat ein Kleinstaat keine Chance auf Gerechtigkeit, auch wenn er sich konsequent an die eigenen Neutralitätsgrundsätze hält. Bei massiven Verstössen gegen das Völkerrecht ist es also auch im Interesse eines neutralen Kleinstaats, dass die Täter nicht die Sieger werden. Dennoch finden auch wir die Neutralität einen wichtigen Pfeiler der Schweizer Aussenpolitik. Die Neutralität als schlaues Instrument – nicht als feiges. Die Schweiz hat Handlungsspielraum, ja Interpretationsspielraum, ganz ohne von den neutralen Prinzipien abzuweichen. Neutralität ist für uns (im Einklang mit der akademischen Definition) ein Mittel, sich überall auf der Welt für eine friedlichere und gerechtere Ordnung einzusetzen, wie dies Artikel 2, Absatz 4 der Bundesverfassung vorsieht.
Gefühltes Wissen 6: Die Kriegsparteien sollen verhandeln
Ah, das Wagenknecht-Argument. Diese Forderung nutzt einen blinden Fleck und gute Intentionen aus. Was wäre denn ein Kompromiss in diesem Fall? Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Russland Territorium fordern und die Aufklärung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strikt ablehnen. Stellt man sich die Schweiz an Stelle der Ukraine vor, wird klar, warum dies keine Lösung für einen gerechten Frieden sein kann. An dieser Stelle kann wieder bei Punkt 4 eingesetzt werden: Putin verlängert den Krieg, nicht mangelnde Verhandlungsbereitschaft.
Geschafft.
Das waren unsere sieben Geschwurbel-Booster für politische Gesundheit. Wenn du diese Gegenargumente überzeugend findest, dann sende sie doch bei Gelegenheit einem Putinversteher oder einer Putinversteherin.
Gefühltes Wissen 7: Moving the goal post.
So nennt sich die Strategie, das Ziel stetig zu verschieben, damit es nie erreicht wird. In etwa wie vorher «geschafft» stand, aber jetzt ein weiterer Punkt kommt.
Während wir diese sieben populären Argumente widerlegt haben, geht garantiert schon der nächste Propagandabrocken viral. Lügen erfinden geht kürzer, als Lügen widerlegen. Darum werden wir Desinformation in vorhersehbaren Zukunft auch nicht los. Nur gut sind wir Liberas und Liberos bereit, argumentativ reinzugrätschen und illiberalen Kräften nicht den Ball zu überlassen.
Das waren sieben Argumente gegen gefühltes Wissen, das online rumgeistert. Damit bist du frisch gegen die gängigsten Varianten russischer Propaganda immunisiert.
Zuletzt noch eine Anmerkung: Die Sicherheit der Schweiz ist direkt abhängig von der Sicherheit Europas. Und ohne Sicherheit keine Neutralität, das hat uns der Zweite Weltkrieg gelehrt. Darum werden unsere Freiheiten an der ukrainischen Grenze verteidigt – mit Unterstützung durch die EU. Darum ist uns die Schweizer Haltung gegenüber unserer grossen europäischen Nachbarin unverständlich. Mehr Informationen zu den offenen institutionellen Fragen mit der EU, und wie die Schweiz die Europapolitik vernachlässigt, findest du auf europa-initiative.ch
Verfasser: Noé Waldmann, Operation Libero
PS: Hättest du gerne den Durchblick in der Schweizer Europapolitik? Am 11. April 2023 von 19:00 bis 20:30 findet unser Bootcamp zur Europapolitik statt. Warum ist Europapolitik eines der wichtigsten Dossiers? Was ist das Problem in der Europapolitik? Was sind die aktuellen Entwicklungen zu Lösungsmöglichkeiten? All das und noch viel mehr erfährst du in unserem Bootcamp. Der Anlass wird online durchgeführt und steht allen Interessierten unabhängig ihres Vorwissens offen. Anmelden kann man sich hier.