Diese Verfassung wünscht sich die SVP
Gestern haben wir das Jubiläum der modernen Schweiz gefeiert. Doch eigentlich ist uns nicht zum Feiern zumute, denn diese moderne, fortschrittliche Schweiz wankt. Der Rechtspopulismus greift zentrale Errungenschaften unserer liberalen Demokratie an – immer radikaler und immer lauter. Wir haben ein Gedankenexperiment gewagt: Wie würde die SVP die Bundesverfassung umschreiben, wenn wir sie liessen?
Was bedeutet die Bundesverfassung für die Schweiz?
Gestern haben wir auf unsere liberalen Errungenschaften angestossen: unsere Grundrechte, den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die direkte Demokratie. Und dass es gelungen ist, die Verfassung seit 1848 fortlaufend an die Zeit anzupassen. Mehr dazu in unserer Jubiläumsrede.
Die Bundesverfassung ist die Grundlage unserer liberalen Demokratie. Sie legt beispielsweise fest, dass die Würde des Menschen zu achten ist, dass wir vor dem Gesetz alle gleich sind und dass wir alle unsere Meinung frei äussern dürfen.
Wieso sind die liberalen Errungenschaften der Verfassung in Gefahr?
Die SVP greift immer radikaler liberale Errungenschaften aus der Verfassung an: Sie fordert und fördert offen Diskriminierung und Rassismus, diskriminiert Menschen, greift den Service public an. Die Partei verunglimpft Schweizer Muslime, die Militärdienst leisten, ihre Jungpartei bezeichnet queere Menschen als krank und dekadent. Das sind nur einige Beispiele von vielen.
Wir haben uns Gedanken gemacht, wie die Bundesverfassung aussähe, wenn die SVP einfach machen könnte, wie es ihr gerade passt. Klick dich durch die einzelnen Verfassungsartikel und schau dir das SVP-Wunschkonzert an.
Gfürchig, nicht wahr? Auch wenn dies “nur” ein Gedankenexperiment ist, es gibt genügend Beispiele aus dem nahen und fernen Ausland, aus der Vergangenheit und der Gegenwart, die zeigen: Verfassungsmässig gegebene Rechte und liberale Errungenschaften sind nicht in Stein gemeisselt. Sie zu verteidigen lohnt sich. Es macht einen realen Unterschied. Die Verfassung sähe ganz anders aus, wenn wir sie nicht über die Jahre gemeinsam immer wieder verteidigt hätten.
Wir müssen die bestehenden liberalen Errungenschaften tagtäglich verteidigen und gleichzeitig unsere liberale Demokratie stetig weiterentwickeln. Dafür setzen wir uns ein als Bewegung.
Verfassung und liberale Errungenschaften verteidigen
Unsere Verfassung darf kein Denkmal der Vergangenheit sein
Rede zu 175 Jahre Verfassung
Jubiläen – wie das heutige zu 175 Jahre Bundesverfassung – sind etwas Seltsames. Sie laden einen ein, die Vergangenheit zu feiern, anstatt die Zukunft. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, höchstens noch verklären. Die Zukunft können wir hingegen jetzt mitgestalten.
Eine Verfassung ist kein abgeschlossenes Ereignis, kein Denkmal der Vergangenheit. Sie ist ein lebendiges Objekt, eine dynamische Errungenschaft. Sie muss unserem Zusammenleben Ordnung geben, sich aber auch den sich wandelnden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Verhältnissen anpassen können.
Hinterfragen wir das Potenzial unserer Verfassung
Heute sollten wir also nicht nur die so wichtigen Errungenschaften unserer Verfassung – Freiheiten für alle Bürger*innen, Demokratie, Gleichgewicht der Macht – feiern und ein (neues) Feuer für die Freiheiten der liberalen Demokratie entfachen. Sondern auch die Zukunftsfähigkeit unserer Verfassung – ihr Potenzial – kritisch hinterfragen.
Das macht es denn auch einfacher, mit den offensichtlichen Defiziten unserer Verfassung umzugehen. Den Defiziten von damals – der Ausschluss von Frauen, der Antisemitismus der Verfassung von 1848, um nur zwei Beispiele zu nennen – und den Defiziten von heute. Dazu zählt die offensichtliche Untauglichkeit der Verfassung, die grössten strukturellen Probleme der Schweiz zu lösen, insbesondere den Ausschluss von einem Viertel der Bevölkerung von gleichen politischen Rechten und unser Verhältnis zu Europa.
Diese Defizite sind kein Fall für Vergangenheitsbewältigung, sondern für Zukunftsbewältigung. Mit der kollektiven Verantwortung, es besser zu machen.
Lösen wir die grossen Fragen unserer Zeit
Wir sollten uns kritisch fragen: Für wie viel mehr Gerechtigkeit, Inklusion und Fortschritt bietet unsere Verfassung noch Raum? Wann und wo stösst die Verfassung hartnäckig an ihre eigenen Grenzen?
Vielleicht braucht es hier Nüchternheit und Optimismus gleichzeitig. Einerseits gibt es Anzeichen einer langsam um sich greifenden Verfassungskrise. Es hängt nicht am Personal oder am Ausgang der Wahlen, dass gewisse Themen – eine Reform des Föderalismus, eine Reform der Staatsleitung, unser Verhältnis zu Europa – nicht an die Hand genommen werden. Es hängt vor allem daran, dass die Verfassung jenen, die in der Tendenz alles beim Alten bleiben lassen wollen, eine stark überproportionale Stimme gibt. Und dass eine Regierung, deren parteipolitische Zusammensetzung nicht mehr in Stein gemeisselt scheint, in den entscheidensten Dossiers mutlos bis handlungsunfähig ist.
Lernen wir aus der Vergangenheit, dass Macht geteilt werden kann
Die Schweiz zu einem fortschrittlicheren und inklusiveren Land zu machen, etwa für den Viertel der Bevölkerung, der aus der Vollmitgliedschaft ausgeschlossen bleibt, wird enorm schwierig. Doch aufgeben darf keine Option sein.
Ein Blick in die Vergangenheit ermutigt uns. Immer wieder konnte die fast naturgegebene Tendenz, dass die Mächtigen ihre Macht nicht teilen wollen, gebrochen werden. Vier Beispiele zeigen, wie in der Schweiz Macht mit neuen Gruppen von Menschen geteilt wurde:
- Ende des 19. Jahrhunderts konnte die direkte Demokratie eingeführt werden.
- Für die Wahlen 1919 wurde das Majorz-System auf direktdemokratischem Weg durch das Proporz-System ersetzt.
- Zum Ende der Weltkriege konnte das Notrechtregime überwunden werden.
- Mit gigantischer Verspätung wurde 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt.
Fordern wir eine modernere, gerechtere Verfassung
Es kann uns also gelingen, unsere Verfassung weiterzuentwickeln – hin zu mehr Gerechtigkeit, Inklusion und Fortschritt. Dafür braucht es eine aktive und engagierte Zivilgesellschaft, die selbstbewusst und laut klar macht: Die Verfassung ist für diejenigen Menschen da, die heute hier leben, nicht ein Denkmal unserer Vergangenheit. Wie die Schweiz selbst ist unsere Verfassung etwas, das sich stetig verändert, nicht etwas Fertiges. Werden wir also ehrgeiziger und schöpfen das Potential unserer Verfassung aus!