Operation Libero Pink

Bilaterale III: JA, JA, JA

- aber Achtung auf das Kleingedruckte

Millenium Bug, weisch no?

Januar 2000. Moritz ist 15 und hockt vor einem Computer mit brummendem Röhrenbildschirm. Ein Draht durch den Gang vom Zimmer bis in die Küche. Mit Napster versucht er, Songs von Muse und Radiohead herunterzuladen. Er kann sie auf CD-ROMs brennen, auf ICQ organisiert er damit ein paar Tauschgeschäfte - mit anderem halbverbotenem und halblegalem Zeugs. Was ist um die Jahrtausendwende richtig verboten und was ist richtig legal? Die Welt verändert sich schnell. Das Internet ist für alle Neuland - so wie der EU-Binnenmarkt.

In den Neunzigern blies über Europa ein Wind of Change. Die Berliner Mauer war gefallen. Auch weniger sichtbare Grenzen sollten verschwinden. Und Europa zu einem einzigen grossen Binnenmarkt zusammenwachsen. Der Bundesrat liess sich davon überzeugen. Der Übergang zu einem Binnenmarkt war der Schweizer Stimmbevölkerung zu umständlich, zu unbekannt, zu suspekt für das Saisonnier-Land Schweiz, das noch kein UN-Mitglied war und die Gleichberechtigung in der Ehe erst vier Jahre zuvor abgesegnet hatte. Zu laut waren die Stimmen, die Angst vor dem Fremden und dem Neuen hatten. In der EWR-Abstimmung wurde der Übergang zum Binnenmarkt hauchdünn abgelehnt.

Genauso wie das Internet entwickelte sich in der Zwischenzeit auch der europäische Binnenmarkt vom abstrakten Konzept zum alltäglichen Standard. Um den Anschluss nicht komplett zu verpassen, verhandelte der Bundesrat 1999 einige zentrale Abkommen: die Bilateralen I, die noch auf dem Freihandelsabkommen von 1972 beruhen. Dieses Konstrukt entspricht in etwa einer Internetverbindung über MS-DOS - einem Betriebssystem, mit dem nur die Generation X klarkommt. Für die Boomers zu kompliziert, für Millennials zu alt.

Der Bundesverwaltung ist es mit viel Kreativität gelungen, die Schweizer Wirtschaft 20 Jahre lang mit diesem veralteten Betriebssystem funktionieren zu lassen. Die letzte informell verhandelte Support-Verlängerung ist 2021 ausgelaufen - erste Teile wie die gegenseitige Anerkennung von Zulassungen für Medizinalprodukte funktionieren mittlerweile nicht mehr. Diese Probleme können erst mit einer lizenzpflichtigen nächsten Version behoben werden.
 

25 Jahre danach: Zeitreise in die Nineties 

Moritz ist gerade 40 geworden. Vor einem Jahr hat er einen neuen Job angefangen und er lernt schnell, dass viel Improvisationskunst gefragt ist: Die neueste Software wurde 2004 installiert. Fast alle Lizenzen sind schon längst abgelaufen. Das Büronetzwerk funktioniert mit Kabeln, die zum Teil nicht mehr im Handel sind. Gewisse Funktionen kann man nur per VPN oder Smartphone erreichen, der Datenschutz bereitet immer wieder Kopfzerbrechen. Server und Computer arbeiten noch erstaunlich fleissig. Die Arbeitskolleg*innen - die Meisten kurz vor dem Ruhestand - sind top motiviert - solange keine IT-Weiterbildung ansteht, und Moritz ihre “Computer-Probleme” löst. Bei zu vielen Updates gleichzeitig sperren sie aber. Karin, die Finanzchefin der Firma, findet die Kosten für ein Update der Infrastruktur zu teuer. Ihr Faxgerät funktioniert ausserdem noch tadellos. Sie übersieht dabei, dass viele Prozesse noch mit Papier funktionieren und viel zusätzliche Bürokratie und unnötige Kosten verursachen.

Willkommen in der Welt der Bilateralen I. Eigentlich sind alle Abkommen längst total veraltet, und die institutionellen Mechanismen, um sie aktuell zu halten, nicht ausreichend. Glücklicherweise gibt es in der Bundesverwaltung und in den meisten Schweizer Firmen genug kreative Moritz, die es irgendwie schaffen, den totalen Shutdown abzuwehren. Mal ist es eine Briefkastenfirma in Deutschland, mal ein langer Anruf mit dem zuständigen Beamten oder einfach Glück - zum Beispiel, dass das Stromnetz mit einer kurzfristigen Übergangsbestimmung vom Kollabieren abgehalten wird. 
 

Die Bilateralen 3.0: Ein Update Basic

Die Bilateralen 3.0 sind ein massgeschneidertes Update der Bilateralen I, das auf dem bewährten Schweizer Hardware-Konstrukt beruht, und nicht auf einem Anschluss an eine EU-Cloud. Das erleichtert die Aktualisierung und ermöglicht Flexibilität. Niemand muss sich an ein völlig neues Modell gewöhnen, es bleibt vieles vertraut. Und insgesamt amortisieren sich die Investitionen schnell, was Karins Bedenken zerstreut. Wichtiger Punkt: Die Schweiz kann an der Weiterentwicklung der Softwares mitmachen, ihr Know-How einbringen - und ihre Bedürfnisse.

Wer gewinnt? Am meisten aufatmen dürften die Auslandschweizer*innen. Das jetzige Personenfreizügigkeitsabkommen beruht auf Rechtsbestimmungen, die zum Teil in der EU obsolet sind.

Die Rechtsunsicherheit, die beim Aufenthaltsstatus bei der Geburt anfängt, sich über die Zulassungsbedinungen für das Studium fortsetzt, die Anerkennung der Diplome tangiert und sich bis zum Pflegestatus im Altersheim erstreckt, diese Unsicherheit kann über die Übernahme der sogenannten Unionsbürgerrichtlinie abgebaut werden.

Auch für die Schweizer Export-Industrie würden die Zeiten wieder rosiger. Ohne gegenseitige Anerkennung von Zulassungen ist es für Schweizer Firmen deutlich komplizierter und teurer, da sie ihre Produkte für die Schweiz und EU separat zertifizieren müssen, um sie verkaufen zu können. Seit 2021 betrifft das bereits die Medizinaltechnikbranche; die Maschinen- und Elektroindustrie sowie die Pharmaindustrie wären davon bald auch betroffen.
Mit der Aktualisierung des MRA-Abkommens (Mutual Recognition Agreement) wird diese gegenseitige Anerkennung wieder installiert und zudem gibt es für die Schweizer Exportindustrie einen wichtigen Anreiz weniger, ihre Aktivitäten ins EU-Ausland zu verlagern - und gleichzeitig wäre für die Konsument*innen weniger zu befürchten, dass EU-Exporteure Produkte für den Schweizer Markt gar nicht, oder bedeutend teurer anbieten würden.

Viele neue Features werden durch das Update des Betriebssystems erst ermöglicht. Die Zusammenarbeit im Strommarkt, der Lebensmittelsicherheit und im Gesundheitsbereich war aufgrund der veralteten Grundlagen der Zusammenarbeit bisher nicht möglich. Die Schnittstellen waren schlichtweg inkompatibel. 

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Goodwill Bugfix-Release auf dem Weg zum Update

Weil die Prozesse zum Installieren des Updates in der Schweiz lange dauern, mussten die eklatantesten Sicherheitslücken überbrückt werden. Die EU hat Übergangsmechanismen bereitgestellt, um einen grösseren Crash im 2025 zu verhindern.

Die Swissgrid warnt seit  Jahren davor, dass ihre Aufgabe zur Sicherung der Netzstabilität wegen des fehlenden Strommarktabkommens jedes Jahr illusorischer wird. Die EU hat in einer Übergangsphase zugestimmt, Swissgrid wieder besser in die Mechanismen zur Sicherung der Netzstabilität einzubinden. Dieser Erfolg kommt gerade noch rechtzeitig, denn das nächste Betriebssystem für den Strommarkt wird in der EU 2025 fertig installiert und das Schweizer System ist damit aktuell grösstenteils inkompatibel.

Der Forschungsstandort Schweiz wird ab 2025 auch wieder attraktiver. Nachdem die Kabel zwischen dem Forschungsplatz Schweiz und dem Programm Horizon gekappt wurden, wurde es für Schweizer Hochschulen immer schwieriger, sich an vorderster Front an der Forschung zu beteiligen und die besten Professor*innen und Student*innen an die Schweizer Hochschulen zu holen. Glücklicherweise kommt die EU der Schweiz hier sehr weit entgegen und ermöglicht den Zugang zu den wichtigen Horizon-Ausschreibungen ab 1. Januar 2025 wieder.

Trotz dieser Troubleshootings und Neuerungen ist das darunter liegende Konstrukt immer noch instabil und kann nur durch ein vollständiges Update am Zusammenbrechen gehindert werden. 

Die Nutzungsbedingungen richtig lesen

Damit dieses selbst programmierte Betriebssystem nicht bereits in ein paar Jahren wieder obsolet wird, ist ein dynamischer Update-Mechanismus vorgesehen. Diesen gab es bislang nicht. Auftretende Schwächen und Fehler mussten akzeptiert und komplizierte Umgehungslösungen gefunden werden. Durch das dynamische Update-Modell können die Aktualisierungen von der Schweiz selbständig durchgeführt werden. Sollte ein Update zu heikel für die Schweiz sein, kann das Update übersprungen werden. Die Kosten der drohenden Inkompatibilitäten müssen einfach akzeptiert werden. Bug-Fixes seitens der EU und der Schweiz für diese Inkompatibilitäten dürfen nicht zu einem ungerechtfertigten Nachteil einer Seite führen. Daher wacht ein unabhängiges und von beiden Seiten besetztes Schiedsgericht über diese Umgehungslösungen.

Eine heikle Winkelried-Klausel

Der “Opt out”-Mechanismus den die Schweizer Unterhändler*innen durchsetzen konnten, ist demokratiepolitisch ein Fortschritt. Wenn ein Update nicht mehrheitsfähig ist, kann man darauf verzichten, ohne dass das ganze System kollabiert. Wenn die Union jedoch der Auffassung ist, dass dieses “Schlupfloch” für sie schädlich ist - und das Schiedsgericht ihr zustimmt - kann sie Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Das Verhältnismässigkeitsgebot und die Rekursmöglichkeit vor einem unabhängigen und gemeinsam bestellten Schiedsgericht sind für die Schweiz eine wichtige Garantie. In unserer IT-Metapher würde das heissen, wenn die Schweiz z.B. eine neue Navigationssoftware nicht installieren möchte, kann die EU z.B. das E-Mail-Client sperren.  Die Aufgabe des Schiedsgerichts besteht darin, zu prüfen, ob diese Sperrung verhältnismässig ist.

Gleichzeitig bedeutet das aber, dass freiheitliche Errungenschaften - wie zum Beispiel das Aufenthaltsrecht in der EU für Auslandschweizer*innen oder der Binnenmarktzugang für gewisse Branchen als Ausgleichsmassnahmen im Namen der übergeordneten Staatsräson zur Disposition stehen, ohne dass die Schweizer Bevölkerung darüber abstimmen kann. Diese Gefahr könnte besonders gross sein, wenn sich die Schweizer Behörden dafür entscheiden, aus innenpolitischen Überlegungen die “Schutzklausel” zur Einschränkung der Personenfreizügigkeit zu aktivieren.

In diesem Bereich müssen aus liberaler Sicht hier in der Gesetzgebung zur Umsetzung im Landesrecht noch einige Fire-Walls installiert werden. Die aktuelle Lösung ist insofern bedenklich, als dass im Vergleich zum Bussen-System, das in der EU und im EWR bei der Nichtübernahme von relevantem EU-Recht gilt, hier nicht der Staat - und somit die Allgemeinheit -  zur Kasse gebeten, sondern eine willkürlich bezeichnete Personengruppe oder Branche.

Um diese Behördenwillkür einzuschränken, müsste sichergestellt werden,  dass eine Volksabstimmung erst nach der Bekanntgabe der Ausgleichsmassnahme durch die EU-Kommission und der Verhältnismässigkeitsprüfung durch das Schiedsgericht stattfindet. Ähnlich sollte es möglich sein, gegen einen “Opt out”-Entscheid durch Schweizer Behörden das Referendum zu ergreifen. Nur so können die von den Ausgleichsmassnahmen betroffenen Kreise in einer Abstimmung ihre Interessen und Argumente geltend machen. In beiden Fällen kann die Stimmbevölkerung letztinstanzlich und vollständig informiert die Güterabwägung zwischen der dynamischen Rechtsübernahme und dem “Opt-out” mit Ausgleichsmassnahmen durchführen.

Fazit: JA, JA, JA - mit einem liberalen Kompass 

Die Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen, und wir müssen weiterhin auf das Kleingedruckte achten. Die vorgeschlagene institutionelle Lösung ist demokratiepolitisch eine Chance, bringt aber nicht zu unterschätzenden Risiken mit sich: Freiheitliche Errungenschaften dürfen nicht von Behörden als willkürliche Ausgleichsmassnahmen benutzt werden. Deswegen ist es bei der Umsetzung dieser “institutionellen Lösung” ins Landesrecht zentral, dass die Stimmbevölkerung vor jeglichen Entscheidungen vollumfänglich informiert ist: die Schweizer Stimmbürger*innen müssen wissen, welche Ausgleichsmassnahmen die EU sie erwartet, wenn sie eine bestimmte Rechtsübernahme ablehnen wollen.
Jenseits dieser institutionellen Detailfragen - die wir im Landesrecht lösen können! - ist dieser Verhandlungsabschluss eindeutig als positiv zu beurteilen. Der Elefant im Raum kann gezähmt werden.

Die Bilateralen III sind für das Chancenland Schweiz im Vergleich zum Status Quo eine um Welten bessere Variante. Deswegen sagt Operation Libero dreimal JA:
JA zu mehr Innovationskraft. 
JA zu mehr Rechtssicherheit. 
Und vor allem ein gigantisch  grosses JA zu mehr Verantwortung in Europa und mehr Demokratie in der Schweizer Europapolitik. 


Verfasser*innen: Till Burckhardt, Dominic Ullmann und Delia Kläger

Till Burckhardt
Dominic Ullmann
Delia Kläger
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