Leistungsgesellschaft: Der Umkehrschluss funktioniert nicht.
Meinungsbeitrag von Janos Ammann
Das normative Credo der Leistungsgesellschaft, «wer viel leistet und viel riskiert, soll reich belohnt werden», beschreibt einen Soll-Zustand und keineswegs schon die Realität, wie einige uns gern glaubhaft machen würden. Gerade die jetzige Corona-Situation führt uns dies wieder vor Augen.
Das Leistungsprinzip. Einer der hellsten Leitsterne am Firmament der marktwirtschaftlichen, liberalen Staatsordnung: Wer viel leistet und viel riskiert, soll reich belohnt werden. Das Leistungsprinzip ist dem Herkunftsprinzip vorzuziehen, da es unsere sozioökonomische Stellung und damit unsere Chancen auf ein gutes Leben in den Bereich des individuell Beeinflussbaren holt, anstatt sie gänzlich der Geburtenlotterie zu überlassen.
Der Erfolg des Leistungsprinzips ist daran zu erkennen, wie verkrampft Gewinner der Geburtenlotterie versuchen, diesen Gewinn als wohlverdientes Resultat ihrer eigenen Leistung darzustellen. Während ein Prinz früher seine gesellschaftliche Stellung in grösster Selbstverständlichkeit mit dem Verweis auf die Stellung seines Vaters rechtfertigte, muss der Sohn eines reichen Immobilienentwicklers heute seine Stellung als ebenfalls reicher Immobilienentwickler krampfhaft als Resultat seiner eigenen Brillanz, Risikobereitschaft und Arbeitsmoral legitimieren.
Die Stärke des Leistungsprinzips gibt jenen mit einer hohen sozioökonomischen Stellung den Anreiz, die aktuelle, für sie vorteilhafte Gesellschaftsordnung als Leistungsgesellschaft zu beschreiben. Aus einer normativen Aussage – «wer viel leistet und viel riskiert, soll reich belohnt werden» – wird eine beschreibende Aussage: «Wer viel leistet und viel riskiert, wird reich belohnt.» Diese kleine aber folgenreiche Umdeutung ergibt den für die ökonomische Elite sehr angenehmen Umkehrschluss: «Wer reich belohnt wird, hat viel geleistet und riskiert.» Materieller Reichtum und hohe Löhne werden zum Zeichen von Leistung und Risikobereitschaft. Dass diese Deutungsumkehr zumindest für den obersten Teil der Einkommensverteilung verlogen ist, wurde spätestens in der Finanzkrise 2008 klar, als Investment-Banker geschützt durch die Staatsgarantie das Geld anderer Leute verzockten und sich dabei Millionen-Boni auszahlen liessen.
Die Corona-Pandemie legt nun abermals offen, wie verlogen diese Deutungsumkehr auch für eine viel breitere Bevölkerungsschicht ist. Wer leistet viel und wer riskiert viel in dieser Zeit? Es ist das Pflegepersonal, das uns am Leben erhält, es sind die Logistikerinnen, die Delivery-Fahrer, die Regal-Füller und Verkäuferinnen in Migros und Coop, die unsere Versorgung sicherstellen, es sind die Handwerkerinnen und Bauarbeiter, die sich nicht an die Distanzregeln halten können, es sind die Kleinunternehmen, die um ihr Überleben kämpfen.
Werden sie nun reich belohnt?
Höchstwahrscheinlich nicht.
Unsere real existierende Leistungsgesellschaft wird dem Anspruch des Leistungsprinzips offensichtlich nicht gerecht. Angesichts dieser Verfehlung könnte man versucht sein, das Leistungsprinzip ganz zu verwerfen. Tatsächlich sind die Suche nach besseren und die Ergänzung um andere Ideen notwendig – zum Beispiel Solidarität mit Menschen, die nicht arbeiten können oder deren Arbeit nicht entlöhnt wird. Trotzdem sollten wir das Leistungsprinzip nicht mit dem Bad ausschütten.
Wichtiger ist es, den normativen Anspruch des Leistungsprinzips wieder in den Mittelpunkt zu stellen und die Vorstellung abzuschütteln, wir seien tatsächlich schon in einer Leistungsgesellschaft. Dafür sind strukturelle Faktoren nach wie vor viel zu einflussreich: Geschlecht, Hautfarbe und Elternhaus beeinflussen zum Beispiel stark, welche Leistung mir zugetraut wird, welche Leistung ich erbringen kann und wie meine Leistung wahrgenommen wird. Je kleiner der Einfluss dieser strukturellen Faktoren wird, desto eher können wir von einer Leistungsgesellschaft sprechen.
Zudem gilt es, die Deutungshoheit über den Leistungsbegriff jenen streitig zu machen, die damit vor allem den Status Quo legitimieren. Die Corona-Pandemie zeigt, dass Leistung sich nicht nur daran messen darf, wer am meisten verdient, wer also mit seiner Arbeit die höchste Kaufkraft befriedigen kann oder wessen Kapital am profitabelsten angelegt ist. Wir können als Gesellschaft, als politische Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden, was wir als Leistung erachten und wir können sie dem Leistungsprinzip folgend auch entsprechend honorieren.