Warum Sanija Ameti unsere Co-Präsidentin bleibt
Sanija Ameti, unsere Co-Präsidentin, hat anfangs September an einem Freitagabend zu Hause auf ein Bild geschossen, Fotos davon in den sozialen Medien gepostet und ist dann schlafen gegangen. Am nächsten Morgen ist sie aufgewacht, geweckt von einem Anruf eines Journalisten: “Warum schiessen Sie auf Jesus und Maria? Was haben Sie sich nur dabei gedacht?” Sanija realisierte, was sie am Abend zuvor nicht erfasst hatte: Sie schoss auf ein Auktionsbild mit religiösem Inhalt. Sie schoss auf ein Bild von Maria und Jesus.
Sie hatte sofort alle Menschen im Kopf, die sie damit empört und verletzt haben musste.
Sie löschte das Bild sofort.
Und bat wenig später um Vergebung.
Doch es war zu spät. Der erste Artikel war veröffentlicht, der Shitstorm losgetreten. Es gab kein Zurück mehr.
Danach ging es schnell. Und die ganze Schweiz war in Aufruhr. “Hat sie sich nichts überlegt?” – “Was hat sie sich nur dabei gedacht?” – “Stellen Sie sich vor, jemand hätte auf Mohammed geschossen!” In nur fünf Tagen wurden fast 500 Artikel über Sanija geschrieben, mehrere Sendungen und Podcasts behandelten den Vorfall. Die Menschen waren irritiert, viele teilten ihre Empörung und ihre Enttäuschung und brachten ihre verletzten Gefühle zum Ausdruck. Rechtspopulist*innen und Rechtsextreme nutzten die Gunst der Stunde und riefen dazu auf, Sanija solle “verschwinden”. Sogar Russlands Propagandasender sprang auf. Morddrohungen, Gewaltaufrufe, rassistische und sexistische Angriffe folgten. Während die einen die Deportation von Sanija forderten, gingen andere Menschen auf stille Distanz zu ihr. Viele differenzierten. Viele solidarisierten sich mit Sanija. Ein nationaler Aufruf setzte ein Zeichen und sagte: Jetzt ist genug. In wenigen Tagen unterschrieben rund 5’000 Menschen, um der Welle von Empörung und Hass, die sich über Sanija ergoss, ein Ende zu setzen. Viele suchten nach Erklärungen für das, was geschehen war. Einige glaubten gar, die Antwort zu kennen.
Und Sanija? Sanija erhielt Tausende Mails, Nachrichten und Anrufe. Ab Montag brauchten sie und ihre Familie Polizeischutz, die eigene Partei startete ein Ausschlussverfahren und der Arbeitgeber kommunizierte ihr die fristlose Entlassung. Sie schrieb dem Bischof von Chur einen persönlichen Brief, in dem sie um Vergebung bat, und traf weitere religiöse Vertreter*innen. Sie musste ihr Zuhause aus Sicherheitsgründen verlassen. Und sie zog sich, erschlagen vom Shitstorm, komplett zurück.
Nichts war mehr so wie noch am Freitagabend. Alles war anders. Das Leben einmal auf den Kopf gestellt. Sanija Ameti verschwand, so wie es ein österreichischer Rechtsextremist gefordert hatte.
Und Operation Libero? Auch wir haben die Enttäuschung und Empörung, die Sanijas Handlung ausgelöst hat, geteilt. Auch wir fühlten uns vor den Kopf gestossen, wussten die Handlung zu Beginn nicht einzuordnen. Doch wir wollten nicht vorschnell urteilen. Wir bewahrten Ruhe. Im Gespräch mit Sanija wurde schnell klar: Sanija war nicht bewusst, was sie tat. Es war keine absichtliche Provokation. Es war keine geplante Handlung. Es war eine Dummheit, die ihr hätte bewusst sein müssen, ihr aber an diesem Abend nicht bewusst war. Und so nahmen wir Sanijas aufrichtige Bitte um Entschuldigung an. Weil wir überzeugt sind, dass Menschen aus ihrem Fehlverhalten lernen können. Und weil Fehler menschlich sind.
Wir publizierten ein Statement und erklärten, dass für Sanija wie auch für uns ausser Frage steht, dass ihre Handlung falsch und unangebracht war. Und dass wir Sanija als Politikerin, als Co-Präsidentin und als Freundin schätzen. Über 2’000 Mails haben wir in den Tagen danach erhalten, alleine 752 am Dienstag. Tag und Nacht haben wir gearbeitet, um mit den Menschen in Austausch zu treten. Unser Krisenkommunikationschat lief heiss. Zwei Wochen lang wurden fast täglich Sitzungen mit unserer Community einberufen, um in Verbindung zu bleiben. Wir standen zu unserer Co-Präsidentin. Dafür erhielten wir Widerspruch, aber auch Zuspruch. 61 Mitglieder sind seither ausgetreten, 47 Mitglieder neu dazugekommen.
Unterdessen ist Zeit vergangen. Die Wogen haben sich geglättet, die rassistischen und frauenfeindlichen E-Mails in unseren Posteingängen wurden weniger. Wir konnten den Fokus wieder auf das legen, was wir politisch vorantreiben wollen: Wir konnten uns wieder für starke und enge Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa einsetzen. Wir konnten die Demokratie-Initiative mit einreichen, welche ein liberales Bürger*innenrecht fordert. Wir konnten die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Erinnerung rufen, die ausgerechnet zum 50-jährigen Jubiläum stark unter Druck steht. Wir mussten die Wahl Trumps miterleben und entwickelten darum ein 8-Punkte-Programm für einen wehrhaften Liberalismus.
Und Sanija? Ihr ging es Schritt für Schritt besser. Sie fing wieder an zu essen. Sie traute sich wieder auf die Strasse. Und nahm punktuell wieder an unseren Sitzungen teil. Wir liessen ihr Zeit und schützten ihre physische und psychische Integrität.
Mit diesem Interview stellt sich Sanija der Öffentlichkeit. Und nein, sie zieht sich nicht zurück ins Private, so wie es vielleicht viele erwartet und einige gehofft hatten. Sie steht hin und sie übernimmt damit Verantwortung.
Ja, Sanija hat einen Fehler gemacht.
Sie hat um Entschuldigung gebeten.
Wir alle machen Fehler.
Die Frage ist, wie wir in einer freiheitlichen, liberalen Gesellschaft damit umgehen.
In einer liberalen Gesellschaft gehen Freiheit und Verantwortung Hand in Hand. Sanija hat auf der persönlichen Ebene für ihre Handlung umgehend Schuld auf sich genommen. Sie hat Verantwortung übernommen für ihr Handeln. Auf der gesellschaftlichen Ebene wurde ihr jedoch nicht nur für diese Handlung, für das, was sie tat, Schuld angelastet. Sondern auch für das, was sie ist: eine laute und selbstbewusste Politikerin, und nicht eine angepasste, dankbare Migrantin, wie das von ihr erwartet wird. Diese Figur an sich ist eine Provokation in der Schweizer Politik, unabhängig von ihrem Tun.
Wenn unsere Verantwortung, unsere Schuld, absolut und unentschuldbar wird, und nach absoluter Busse verlangt, dann stirbt die Freiheit. Und auch die Menschlichkeit. Dann können wir nicht mehr tätig sein, uns nicht mehr äussern. Schon gar nicht öffentlich, und am allerwenigsten in der Politik.
Sanija trägt Verantwortung für ihr Handeln, aber nicht dafür, wer sie ist.
Wir tragen Verantwortung gegenüber Sanija.
Und wir tragen Verantwortung gegenüber den Werten unserer Bewegung.
Sanija Ameti bleibt unsere Co-Präsidentin. Weil wir uns nicht beugen und weil wir nicht zulassen, dass sie sich beugen muss. Beugen heisst Kapitulation. Kapitulation gegenüber denjenigen, denen es nicht passte, dass unsere Co-Präsidentin in den letzten Jahren laut und deutlich, sichtbar und bestimmt für liberale Grundwerte einstand. Kapitulation gegenüber Putins Propagandasender und gegenüber Rechtsextremen, die sich ein “Verschwinden” von Sanija wünschen. Kapitulation gegenüber den Angriffen auf die Werte, für die wir uns einsetzen.
Sanija verschwindet nicht. Und so ist das Festhalten an Sanija als Co-Präsidentin ein Zeichen an alle diejenigen, die Sanijas Fehler ausgenutzt haben, um ihren Hass zu verbreiten. Wir überlassen das Feld nicht den Kräften, die Sanija verschwunden sehen wollen. Wir stehen ein für eine Gesellschaft, in der Menschen als Menschen verstanden und behandelt werden. Wo Rassismus und Frauenfeindlichkeit keinen Platz haben. Wir stehen zu den Menschen, die mit uns für eine bessere, menschlichere Gesellschaft einstehen, und schützen sie. Und wir wehren uns gegen populistische und rechtsradikale Angriffe – Angriffe auf Sanija, auf die liberalen Institutionen und auf alle, die solche Angriffe erfahren. Wir machen Politik mit Herz. Und wir machen sie gemeinsam.
Gemeinsam schauen wir nun nach vorne. 2024 war ein schwieriges Jahr, 2025 wird ein wichtiges Jahr. Auch 2025 setzen wir uns ein für eine offene und fortschrittliche, liberale und gerechte Gesellschaft, in der sich jeder Mensch frei entfalten kann und gleich an Würde und Rechten ist. Auch 2025 stärken wir die liberale Demokratie. Auch 2025 boosten wir Freiheit. Wir tun das seit 2014. Wir tun dies gemeinsam. Als Bewegung. Als Team.
Zu diesem Team gehört unsere Co-Präsidentin Sanija.
Der Vorstand der Operation Libero
Co-Präsident Stefan Manser-Egli, Dennis Teichmann, Dominic Ullmann, Elena Michel, Julia Schwitter, Laura Pohl, Lea Schlenker, Lorenz Buchser, Renato Perlini, Silvan Gisler
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