Die 15 Räubergeschichten der Magdalena You Dreamer Martullo-Blocher
Faktencheck: Interview zur Kündigungsinitiative im Tagesanzeiger vom 8. August
Von der SVP fehlte im Abstimmungskampf bis jetzt jede Spur. Jetzt verbreitet Magdalena Martullo-Blocher in einem Interview im Tagesanzeiger wilde Räubergeschichten. Wir haben den Text in seine Einzelteile zerlegt, die 15 grössten Falschaussagen widerlegt und mit Gifs illustriert.
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Bei der Personenfreizügigkeit geht es nicht um den Zugang unserer Produkte zum EU-Markt...
Doch. Tut es. Because of Guillotine.
Die "Begrenzungsinitiative" ist eine Kündigungsinitiative. Wer den Text aufmerksam liest, dem wird klar: Das Freizügigkeitsabkommen müsste innert 12 Monaten neu verhandelt und dann automatisch gekündigt werden. Die Initianten setzen unsere Freiheiten und die geregelten Beziehungen zum Rest Europas, die wir uns in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben, in leichtsinniger, unverantwortlicher Weise unter eine Guillotine mit Zeitschaltuhr. Da machen wir nicht mit. Und stimmen am 27. September NEIN zur Kündigungsinitiative.
Kein einziger Kunde kauft unsere Produkte, nur weil die Schweiz die Personenfreizügigkeit oder sonst einen bilateralen Vertrag mit der EU hat. Wir verkaufen unsere Produkte, weil sie gut sind.
Wenn es keinen Marktzugang gäbe, wären die Produkte entweder teurer oder schwerer zu bekommen und würden daher jedenfalls in einigen Fällen durch andere Produkte ersetzt.
Das wichtigste Abkommen für die Exportindustrie wird aber nicht angetastet: das Freihandelsabkommen von 1972. Bei den bilateralen Abkommen handelt es sich eigentlich nur um Zusatzabkommen, die diverse Modalitäten regeln.
Freihandel und Binnenmarktzugang sind zwei grundlegend verschiedene Dinge. Die Bilateralen wurden damals unter anderem deswegen ausgehandelt, weil ein FHA der Wirtschaft nicht den nötigen EU-Marktzugang gewährte. Ein FHA baut auf der Idee auf, Handelshürden abzubauen (v.a. Zölle). Es sind aber immer noch verschiedene Märkte, man muss immer noch auf dem anderen Markt mit seinem Produkt zugelassen werden. Ein Binnenmarkt hingegen beruht auf der Idee, dass alle, ob hiesige oder auswärtige Anbieter gleich lange Spiesse haben. Ein Produkt, das in einem beteiligten Staat zugelassen ist, ist im ganzen Binnenmarkt zugelassen. Ohne Bilaterale (konkret Abkommen über Technische Handelshemnisse), aber mit FHA, müssten z.B. Medizinalprodukte trotzdem sowohl in der Schweiz wie auch in der EU auf ihre Konformität überprüft werden, was erhebliche Kosten zur Folge hätte.
Und wenn mir dieser Europäer nicht passt, hole ich einfach den nächsten.
Das war insbesondere früher so, als die Menschen nur als Saisonniers kommen konnten. Da war das Machtgefälle zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber grösser.
Das Problem ist aber, dass 80 Prozent zuwandern, ohne eine Stelle anzunehmen, für die wir keine Leute im Inland haben. Sie verdrängen Inländer.
Es gibt unter den sehr zahlreichen Studien zur Personenfreizügigkeit keine einzige, die einen solchen Verdrängungseffekt nachweisen kann. Studien, die das Gegenteil zeigen, die gibt es hingegen sehr wohl (KOF-Studie).
Je nachdem gelten sie dann noch als Härtefall und bleiben.
Es gibt keinen Härtefall-Tatbestand für Europäer, die nach 6 Monaten Arbeitssuche in der Schweiz noch keine Stelle gefunden haben. Jene Härtefall-Tatbestände die es gibt, haben viel höhere Anforderungen als eine 6-monatige Anwesenheit in der Schweiz.
Normalarbeitsverträge sind staatliche Verträge, schalten den Markt aus und führen zu mehr Bürokratie. Damit kann man die Probleme nicht lösen.
Wie kommt es denn dann, dass die Kündigungsinitiative ein Kontigentierungssystem einführen möchte, also ein planwirtschaftliches System, eins das den grössten Bürokratisierungs- und Zentralisierungsschub in der Geschichte des Landes mit sich brächte.
Schauen Sie sich doch die Situation im Tessin an: Der Kanton hat am meisten Normal- und Gesamtarbeitsverträge, und trotzdem ist der Druck so gross, dass die Löhne 20 Prozent tiefer sind als auf der anderen Seite des Gotthards.
Die Löhne waren im Tessin schon immer deutlich tiefer als in der Deutschschweiz und der französischsprachigen Schweiz. Das war auch schon vor der Personenfreizügigkeit so. Dafür verantwortlich sind aber mehrere Faktoren, insbesondere die Strukturschwäche des Tessiner Arbeitsmarktes und die geringe Dichte hochqualifizierter Stellen im Tessin.
Und jetzt in der Corona-Krise sind es vor allem Tiefqualifizierte, die in der Schweiz arbeitslos werden und von uns Arbeitslosengelder beziehen. (...) Ja, aber vorher hatten wir noch das Saisonnierstatut. Wenn Tiefqualifizierte damals arbeitslos wurden, kehrten sie in ihre Heimat zurück, und wir mussten nichts bezahlen. Heute ist die Situation anders.
Offenbar möchte Frau Martullo-Blocher die weniger qualifizierten Ausländer in der Schweiz wieder als Konjunkturpuffer einsetzen und ihnen den Schuh geben können, wenn sie vorübergehend nicht mehr benötigt werden, damit ihr Herkunftsstaat jene Arbeitslosigkeit finanziere, die in der Schweiz entstanden ist. Menschen sollen also auf ihre Arbeitskraft reduziert werden. Wie zu Zeiten Schwarzenbachs und der Ölkrise.
Das sind Klagen auf Vorrat. Die Firmen bekommen die Leute, die sie brauchen. Vielleicht nicht immer sofort. In anderen Ländern warten sie da aber viel länger.
Ständig beschwert sie sich über zu viel Bürokratie und über zuviel red tape und sagt, Unternehmen könnten sich nicht auf das viel zu langsame Tempo der Verwaltung einstellen. Aber ausgerechnet bei der Frage, welche Mitarbeiter sie rekrutieren können - das wichtigste Kapital der Unternehmen - da ist es dann OK, wenn man ein-zwei Jahre auf einen Entscheid der Amtlinge warten muss. Hauptsache, die Amtsschnecke ist etwas schneller, als sie es im Ausland wäre.
Zentral ist, dass wir wieder zu einem System übergehen, bei dem nicht einfach jeder reingelassen wird, der kommen will, sondern nur jene, die wir auch brauchen.
Die PFZ lässt nicht jeden rein, der will. Sie ist eine Freizügigkeit für Arbeitnehmende. Man muss die Arbeitnehmereigenschaft erfüllen, um von ihr zu profitieren (oder finanziell abgesichert sein, wenn man ohne Erwerbstätigkeit einreisen will). Die Frage ist also nicht, ob wir diese Leute brauchen oder nicht, die Frage ist, ob es die Arbeitgeber oder die Fremdenpolizei, also der Markt oder die Obrigkeit sind, die besser entscheiden können, wer gebraucht wird.
Zuwanderer und Grenzgänger sollten nur eine Ergänzung für den Arbeitsmarkt sein und nicht wie heute ganze Betriebe oder Branchen dominieren.
Heute sind ausländische Arbeitskräfte in vielen unterschiedlichen Branchen vertreten. In einigen mehr, in anderen weniger. Aber gewisse Branchen wurden schon zuvor von Ausländern dominiert, es haben praktisch nur Ausländer in diesen Branchen gearbeitet. Für diese Branchen wurde denn auch speziell das Saisonnier-Statut geschaffen. Besonders auf dem Bau und im Baunebengewerbe waren die Ausländer schon lange vor der PFZ dominierend (wers nicht glaubt, soll Max Frisch lesen) und wären das sicher auch nach der Abschaffung der PFZ. Einfach wiederum als prekäre, entsorgbare Konjunkturpuffer und nicht als Rechtsträger.
Gerade im Gesundheitswesen sorgen aber die vielen Grenzgänger dafür, dass die Löhne tief bleiben. Weil sie bereit sind, zu solchen Konditionen zu arbeiten.
Wie gesagt, ein solcher Dumping-Effekt lässt sich nirgends nachweisen. In keiner einzigen Studie. Auch nicht bei Wenigverdienenden und auch nicht durch Grenzgänger. Und schon gar nicht im staatlichen und mit staatlichen Löhnen entlöhnten Gesundheitswesen. Hier bleiben die Löhne tief, weil die Kantone (in der Regel von SVP-dominierten Parlamenten regiert), ihre Budgets über die Löhne ihrer Angestellten sanieren.
Anders als nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative regelt diese Initiative jetzt ganz klar, was passiert, wenn es keine Verhandlungslösung gibt. Das stärkt die Verhandlungsposition des Bundesrats.
Die Verhandler der EU können auch lesen. Sie wissen auch, dass der Bundesrat nur ein Jahr Zeit hat. Sie werden also den Faktor Zeit - noch gnadenloser als sonst schon in Verhandlungen - knallhart zum Nachteil der Schweiz einzusetzen wissen.
ich glaube nicht, dass die EU die Kündigung dieser Verträge in Kauf nimmt. Und wenn es doch so sein sollte, dann verhandeln wir die Verträge einfach neu und besser.
Wer davon ausgeht, dass wir die Verträge einfach nochmals neu und besser aushandeln können, müsste an sich erklären können, was sich an der Ausgangslage für Verhandlungen seit den 90er-Jahren verbessert hat. Solche Faktoren sind nicht ersichtlich. Die EU ist seither grösser geworden, hat nun 27 statt 15 Mitglieder. Den neuen ist die Personenfreizügigkeit noch wichtiger. Damals ging die EU noch davon aus, die Bilateralen 1 seien ein Provisorium bis zum Beitritt der Schweiz, davon kann man heute nicht mehr ausgehen. Damals gab es intern noch keinen Druck auf die Personenfreizügigkeit. Heute schon. Das heisst, wenn die Schweiz als Nichtmitglied Binnenmarktzugang ohne Freizügigkeit erhielte, würden das die Mitglieder auch wollen. Ein Zugeständnis an die Schweiz würde also die als wichtigst empfundene (Umfragen als Quellen) Errungenschaft der EU auch innerhalb der EU gefährden. Damals gab es noch keinen Brexit, heute schon. Was immer die EU der Schweiz zugesteht, müsste sie nachher wohl auch UK zugestehen. Das macht Zugeständnisse an die Schweiz viel teurer, als sie nur aus der Perspektive der Schweiz wirken. Damals gab es noch keine Forderungen nach einem institutionellen Abkommen, heute schon. Wenn die EU schon nicht bereit ist, neue sektorielle Abkommen zu schliessen, ohne dass erst die institutionellen Fragen geklärt sind (was die SVP strikte ablehnt), wie soll dann der Neuabschluss bereits einmal gekündigter sektorieller Abkommen gelingen, ohne mindestens gleichzeitig auch die institutionellen Fragen zu klären?