Was hat das Burkaverbot mit dem Marsch fürs Läbe zu tun?
Gegen die Burka und gegen ein Verbot
Was hat die Burka mit Claudio Zanetti, Voltaire und dem Marsch fürs Läbe zu tun? Die kurze Antwort lautet: In der freiheitlichen Gesellschaft mag man viele Dinge zutiefst ablehnen, und sie trotzdem nicht verbieten.
Die Burka oder der Nikab seien politische Symbole, Ausdruck eines radikalen und fundamentalistischen Islams, heisst es seitens der Befürworter*innen des Verhüllungsverbots immer wieder. Dass dies in westlichen Ländern oftmals gar nicht der Fall ist – auch in der Schweiz nicht – tut hier nichts zur Sache. Vielmehr wäre die Vollverschleierung auch dann grundrechtlich geschützt, wenn sie genau das wäre. Oder wie es alt-SVP-Nationalrat und Hobby-Polterer Claudio Zanetti sagt: "Eine Burka sei mehr als ein Kleidungsstück, ist zu lesen und zu hören. Sie sei Ausdruck eines politischen Programms. Das stimmt. Doch dann muss ihr Tragen in der Öffentlichkeit erst recht erlaubt sein." Es gehört zum Kern der liberalen Gesellschaft, dass politische, religiöse und anderweitige Ausdrucksformen insbesondere von Minderheiten unter rechtsstaatlichen Schutz stehen.
Toleranz als ständig neu zu leistender Prozess
So kennen auch alle das fälschlicherweise Voltaire zugeordnete Zitat: “Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen” (tatsächlich stammt es von Evelyn Beatrice Hall). Nun, das klingt gut, alle kennen es, fast alle sind einverstanden. Doch was bedeutet die Aussage tatsächlich? Mein Deutschlehrer hat uns eingebläut: “Toleranz ist ein ständig neu zu leistender Prozess”. Ok. Doch was heisst das genau?
Es heisst einerseits wohl, dass man sich mit (Vor-)Urteilen stets zurückhalten, und zuerst abwarten, zuhören, verstehen und einordnen sollte, bevor man über etwas oder jemanden urteilt. So weit so gut. Andererseits heisst es wohl aber auch, dass wir ständig und immer wieder aufs Neue Dinge tolerieren müssen, die wir vielleicht gar nicht vollends verstehen können, irritierend finden, ja vielleicht gar aus tiefer Überzeugung ablehnen. Darin liegt die stets zu leistende Arbeit, die Toleranz als Prozess, der ständig aktiv und bewusst wiederholt werden muss.
Unser Umgang mit fundamentalistischen Haltungen
Was hat das nun mit der Initiative zu tun? Wenige Symbole stossen auf so viel Irritation oder sogar Ablehnung wie die Burka und der Nikab. Beide schüren grosse Emotionen und sind Quelle von (Vor-)Urteilen. Deshalb lohnt sich der Vergleich mit einer anderen Gesinnung, die nicht minder radikal oder fundamentalistisch ist, als es von der Vollverschleierung gesagt wird: Der Marsch fürs Läbe.
Der Marsch setzt sich als Verein und Demonstration gegen Abtreibungen ein, und damit letztlich gegen das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung. Ein Recht, für welches Frauen weltweit noch immer kämpfen müssen, und welches immer wieder in Frage gestellt wird, wie aktuell gerade in Polen. Und ähnlich wie bei der Burka finden nicht wenige, dass der Marsch fürs Läbe für seine frauenfeindliche Gesinnung verboten oder zumindest als Demonstration nicht zugelassen gehört. Darin liegt der Vergleich zum Gesichtsschleier: Sowohl dieser als auch der Marsch fürs Läbe stehen für eine religiöse, radikale und fundamentalistische Haltung, welche weltweit für die Unterdrückung von Frauen verantwortlich ist, und deren Manifestation im öffentlichen Raum somit untersagt werden solle.
Der liberale Rechtsstaat bestraft keine inneren Haltungen und Überzeugungen
Doch genau das ist der Punkt vom falschen Voltaire: So sehr man die Haltung und Gesinnung hinter der Burka oder dem Marsch fürs Läbe ablehnt (aus guten Gründen), so wenig gehört ihre Manifestation in Form des Gesichtsschleiers oder einer Demonstration auch automatisch verboten. Der freiheitliche Rechtsstaat verbietet keine Gesinnungen oder Ausdrucksformen davon. Nicht nur, weil er das kaum könnte, ohne zu einem autoritären Staat zu werden, der befindet, welche Gesinnung zulässig ist und welche nicht. Sondern vor allem, weil der liberale Rechtsstaat nicht innere Haltungen und Überzeugungen oder ihre Ausdrucksformen bestraft. Bestraft werden Straftaten.
Konkret heisst das, dass eine Burka oder ein Nikab auch als radikales politisches Symbol nicht verboten gehört, sehr wohl aber allenfalls damit zusammenhängende Gewaltanwendungen oder terroristische Aktivitäten. So ist es in der Schweiz unter anderem verboten, eine Frau zum Tragen eines Schleiers zu zwingen, und jegliche terroristische Machenschaften stehen unter Strafe. Im Kontext des Marsch fürs Läbe bedeutet das, dass einerseits weder der Verein noch die Demonstration verboten gehört, aber sehr wohl jegliche Form von Gewalt an und Unterdrückung von Frauen.
Gegen die Burka und gegen das Burkaverbot
Um also auf Voltaire zurückzukommen: So sehr es uns widerstrebt, für Ausdrucksformen, die einem religiösen Fundamentalismus zugerechnet werden können, auf die Barrikaden zu gehen, so sehr gilt es sich dafür einzusetzen, dass diese Haltungen geäussert werden dürfen. Weil die Alternative nur ein Staat sein kann, der nach seinem Gutdünken oder nach jenem der demokratischen Mehrheit normiert, welche Gesinnung zulässig ist oder eben nicht. Und weil das nur ein autoritärer Staat sein kann, gilt insbesondere für Liberale und Feminist*innen auch gerade angesichts der Vollverschleierung oder des Marsch fürs Läbe: Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äussern dürfen.