Keine neuen Sittenmandate für (muslimische) Frauen
Ein Gastbeitrag von Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin
Schweizer Niqab-Trägerinnen sind mitnichten ein Stosstrupp des «politischen Islam», wie gerne behauptet wird, schreibt Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin.
Angeblich richtet sich das Verhüllungsverbot nicht nur gegen „Burka“-Trägerinnen, sondern auch gegen Hooligans und Chaoten. Im Gegensatz zu ersteren bilden diese tatsächlich ein gesellschaftliches Problem. Dagegen gibt es aber bereits in etlichen Kantonen Verhüllungs- respektive Vermummungsverbote, die allerdings nicht viel Wirkung zeigen.
In Tat und Wahrheit geht es den Initianten um verhüllte muslimische Frauen, wie auch die entsprechenden Plakate unschwer erkennen lassen. Die eigentliche Absicht des Männerclubs vom Egerkinger Komitee ist aber wie schon bei der Minarett-Initiative die Botschaft: Der Islam gehört nicht zu unserer Gesellschaft und ist unvereinbar mit unseren Werten. Verpackt wird die Botschaft dieser Ausgrenzungspolitik diesmal in das Randphänomen «Burka» respektive Nikab. Die Vollverschleierung eines winzigen Teils von muslimischen Frauen in der Schweiz soll verboten werden.
Sogenannte „Sittenmandate“ mit Kleidervorschriften gab es in der Schweiz seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit.
Heute, im 21. Jahrhundert, brauchen wir keine neue Sittenmandate, die Frauen vorschreiben, was sie anziehen dürfen und was nicht. Staaten, die solche Kleidervorschriften haben, wie Saudi-Arabien (Zwang zur Verhüllung) oder Frankreich (Zwang zur Enthüllung), sollten wir uns nicht zum Vorbild nehmen.
Kleidervorschriften widersprechen den Grundsätzen einer weltoffenen, modernen Schweiz. Das Selbstbestimmungsrecht von Frauen – auch darum geht es den Initianten angeblich – wird am besten dadurch gewahrt, dass Frauen selbst entscheiden, was sie anziehen wollen und was nicht.
Mitnichten ein Stosstrupp des «politischen Islam»
Die «Burka» wird viel häufiger in Medien und Politik diskutiert, als dass sie auf der Strasse tatsächlich anzutreffen ist. Gemäss einer neuen Studie der Universität Luzern gibt es in der Schweiz maximal 20 bis 30 Frauen, die den Gesichtsschleier Nikab tragen. Diese Frauen bilden eine winzige Minderheit innerhalb der muslimischen Minderheit. Die Studie, wie auch andere grösser angelegte Studie in Frankreich und Dänemark, belegen, dass die betroffenen Frauen diese Kleidung freiwillig tragen und aus einer persönlichen religiösen Motivation heraus. Mit einem Verbot wird die Religionsfreiheit dieser Frauen verletzt. Diese wenigen Frauen bilden keine homogene Gruppe, gehören nicht notwendigerweise einer Organisation an und sind untereinander kaum vernetzt. Sie sind also mitnichten ein Stosstrupp des «politischen Islam», wie gerne behauptet wird.
Die Forschung widerspricht damit dem gängigen Bild, welches in der Öffentlichkeit und den Medien von «Burka-Trägerinnen» gezeichnet wird. Es handelt sich keineswegs um bedauernswerte, ungebildete und von ihren Männern oder Vätern unterdrückte Geschöpfe, die dringend «befreit» werden müssen, sondern um eigenständige junge Frauen, die grösstenteils in der Schweiz sozialisiert wurden und diese – für Schweizer Verhältnisse zugegebenermassen befremdlich wirkende Kleiderform – für sich gewählt haben.
Diese Form der religiösen Praxis ist innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ein Randphänomen und es besteht kein Grund zur Befürchtung, dass die Vollverschleierung als Kleidungsform unter den muslimischen Frauen markant zunehmen, ja sich als Norm durchsetzen könnte.
Kein Zeichen gegen «den politischen Islam»
Ein Ja zum Verhüllungsverbot ist nicht ein Zeichen gegen «den politischen Islam», wie gewisse Kreise glauben machen möchten und breite Bevölkerungskreise gerne glauben wollen, sondern ein Zeichen dafür, dass man in der Schweiz sehr nonchalant mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit umgeht, wenn es um die Religionsfreiheit von Menschen mit missliebigen religiösen Ansichten geht, wenn es um Musliminnen und Muslime geht.
Bei den meisten «Burka-Trägerinnen», die in den Sommermonaten in der Schweiz unterwegs sind, handelt es sich um Touristinnen aus Saudi-Arabien und der Golfregion. Bei ihnen lässt sich nicht sagen, ob sie den Nikab freiwillig tragen. Sie tragen ihn vielleicht nur deswegen, weil er in ihrem Land vorgeschrieben ist. Ob ein Verhüllungsverbot in der Schweizer Bundesverfassung steht oder nicht, interessiert sie wohl kaum, weil es an ihrer Situation überhaupt nichts ändert. Als Leuchtturm für Frauenrechte eignet sich die Schweiz auch deshalb schlecht, weil die Frauen in den meisten Ländern der islamischen Welt schon viel früher das Stimm- und Wahlrecht hatten als Schweizerinnen und der Anteil an Akademikerinnen vielerorts höher ist als in der Schweiz.
Das Gesicht zu zeigen, ist in gewissen Fällen unerlässlich. Es versteht sich von selbst, dass der Staat für die Erbringung von Dienstleistungen die Offenlegung der Identität verlangen darf. Das gilt an sich jetzt schon, ist aber im indirekten Gegenvorschlag nochmals klar festgehalten. Diese Frauen bilden auch kein Sicherheitsrisiko. Es gab bislang keine Gefährdung oder Anschläge, in welche Frauen mit Gesichtsschleier involviert gewesen waren.
Wir müssen damit umgehen können – ohne Verbot
Kleidervorschriften sind ein Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte und das Selbstbestimmungsrecht. Es gibt keinen plausiblen Grund, in der Schweiz Frauen vorzuschreiben, was sie anziehen dürfen und was nicht. Man kann sich daran stossen, sie als unpassend und unästhetisch oder als Zumutung empfinden, selbst ein politisches Statement kann man darin sehen. Aber eine offene und pluralistische Gesellschaft wie unsere nun mal ist, muss damit umgehen können, dass es vielfältige Lebens- und Glaubensformen gibt und dass diese zu respektieren sind, solange sie nicht gegen die Verfassung verstossen, niemandem Schaden zufügen oder die Freiheit anderer einschränken.
Sowohl der Bundesrat als auch das Parlament lehnen das Verhüllungsverbot ab. Desgleichen alle grossen Parteien ausser der SVP. Abgelehnt wird die Initiative auch von den Landeskirchen, dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft der Schweiz, dem Rat der Religionen, der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und anderen NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Abgelehnt wurde ein Burkaverbot zudem von der Landsgemeinde des Kantons Glarus und den Kantonsparlamenten von Bern, Freiburg, Schwyz, Solothurn und Zürich. Das müsste einem Stimmbürger oder einer Stimmbürgerin, die zwar kaum je eine «Burka»-Trägerin zu Gesicht bekommen haben, denen aber verschleierte Frauen einfach eigenartig vorkommen und die keine grosse Lust verspüren, sich mit Islam- und Verfassungsfragen zu befassen, eigentlich Richtschnur genug sein, um die Initiative abzulehnen.
Das «Burkaverbot» bearbeitet ein Problem, das es als solches gar nicht gibt. Es dient wie schon das Minarettverbot der Bewirtschaftung islam- und muslimfeindlicher Gefühle und kann zur Radikalisierung beitragen. Es sei daran erinnert, dass der «Islamische Zentralrat», bisher die einzige namhafte muslimische Organisation in der Schweiz mit radikal-islamischen Zügen, ein Produkt der Minarettabstimmung ist.
Rifa'at Lenzin ist Islamwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der Universität Fribourg und Mitglied des Interreligiösen Thinktanks.