Das kleine ABC des Sexualstrafrechts
Was ist eigentlich Freezing, GREVIO oder sexualisierte Gewalt? In unserem ABC des Sexualstrafrechts erklären wir zentrale Begriffe, damit ihr für wichtige Diskussionen zur Revision des Schweizer Sexualstrafrechts gerüstet seid.
Das Schweizer Sexualstrafrecht soll revidiert werden. Der aktuelle Gesetzesentwurf hat die Vernehmlassung und die ersten Sitzungen der zuständigen Kommission hinter sich. Gleichzeitig wurden Berichte des Bundes und einer NGO-Koalition über die Umsetzung der Istanbul-Konvention veröffentlicht. Doch was bedeutet das alles? Mit unserem kleinen ABC des Sexualstrafrechts wollen wir euch eine Grundlage geben, damit ihr besser versteht, worum es geht.
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Operation Libero beteiligt sich aktiv an der Revision des Schweizer Sexualstrafrechts. Warum wir einen Paradigmenwechsel fordern, liest du hier.
Beischlaf ist der juristische Begriff für die vaginale Penetration mit einem Penis. Dieser Begriff ist in verschiedener Hinsicht problematisch: Einerseits, weil es ein heteronormativ definierter Begriff ist, welcher im Artikel zur Vergewaltigung (Art. 190 StGB) nur auf weibliche Personen ausgelegt ist. Menschen ohne Vagina können dadurch nicht vergewaltigt werden und es können nur Menschen mit einem Penis eine Vergewaltigung ausführen. Andererseits verschleiert der Begriff, um was es bei einer Vergewaltigung geht: um ungewollte anale, orale und vaginale Penetrationen. Der Begriff ist ein nicht mehr zeitgemässer Euphemismus, welcher durch eine neutrale Formulierung ersetzt werden sollte.
In einem Rechtsstaat muss die Staatsanwaltschaft der beschuldigten Person ein strafbares Verhalten nachweisen können. Es braucht also Beweise. An dieser Beweispflicht ändert auch die Zustimmungslösung (siehe “Zustimmungslösung”) nichts: Die Staatsanwaltschaft muss beweisen, dass die beschuldigte Person ohne die Zustimmung der geschädigten Person gehandelt hat.
Wenn Erwachsene Kontakte mit Minderjährigen im virtuellen Raum anbahnen zwecks Aufnahme von sexuellen Kontakten, ist von Cyber-Grooming die Rede. Bei der aktuellen Revision des Sexualstrafrechts unterstützen wir das Vorhaben der RK-S, bereits konkrete Vorbereitungshandlungen für einen sexuellen Kontakt mit Kindern unter Strafe zu stellen. So kann die sexuelle Entwicklung von Kindern rechtlich besser geschützt werden. Denn eine gesunde sexuelle Entwicklung ist Voraussetzung für eine intakte sexuelle Integrität im Erwachsenenalter.
Beim sogenannten “Freezing” erstarren die Opfer während des sexuellen Übergriffs. Das heisst, ihr Körper reagiert auf die Gefahrensituation mit einem Totstellreflex beziehungsweise Bewegungsunfähigkeit. Den Opfern ist es unmöglich, sich verbal und/oder nonverbal zur Wehr zu setzen. Freezing ist wissenschaftlich belegt. So hat beispielsweise eine klinische Studie in Schweden im Jahr 2017 ergeben, dass bei 70 % der 298 Teilnehmerinnen, welche eine Vergewaltigung erlebt hatten, Freezing stattgefunden hat.
Das heutige Sexualstrafrecht sowie auch die Vorschläge der RK-S im Zuge der Revision des Sexualstrafrechts setzen noch immer die Verwendung eines Nötigungsmittels voraus, um den Sachverhalt der Vergewaltigung zu bejahen (siehe “Nötigung” und “Vergewaltigung”). Das heisst, dass eine Person aktiv körperlichen Wiederstand leisten muss, damit es als Vergewaltigung gilt. Freezing wird somit aussen vor gelassen. Wir finden: Eine Straftat sollte daran festgemacht werden, ob die beschuldigte Person eine Verletzung der sexuellen Integrität begangen hat und nicht daran, wie fest sich das Opfer wehrt.
Die Verhütung und Bekämpfung von sexualisierter Gewalt und die Befähigung zu Selbstbestimmung ist ein sehr relevanter Aspekt für die Geschlechtergleichheit, dem Sustainable Development Goal Nummer 5. Zur Erreichung von effektiver Gleichstellung sind aus unserer Sicht sowohl Veränderungen der veralteten Strukturen (Gesetze und Rechtsprechung) als auch des gesellschaftlichen und institutionellen Handelns notwendig.
Die “Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence” ist die Expert*innenkommission zur Istanbul-Konvention. Den aktuellen Bericht zur Situation in der Schweiz findest du hier.
Mit der Istanbul-Konvention verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten – so auch die Schweiz – gegen unterschiedliche Formen von Gewalt vorzugehen. Im Fokus der Konvention steht geschlechtsspezifische Gewalt, also jede Form von Gewalt, die sich entweder gegen Frauen richtet oder Frauen unverhältnismäßig stark trifft. Wir fordern nun, dass die Schweiz ihren Pflichten vollumfänglich nachkommt, indem sie ein inklusives und modernes Sexualstrafrecht schafft.
Auch: einverständlich oder einvernehmlich. Wörtlich laut Duden: in seiner Auffassung mit jemandem übereinstimmen. Im Zusammenhang mit dem Sexualstrafrecht bzw. sexuellen Aktivitäten geht es darum, dass alles okay ist, wozu die Beteiligten zugestimmt haben. Wichtig und oft missverstanden: Zustimmung kann auch durch Handeln ausgedrückt werden und muss nicht zwingend durch Worte erfolgen.
Hat es auch in den Duden geschafft: Schlagwort, das die Bekämpfung von Kriminalität, Rauschgiftsucht, Gewalt u. Ä. durch drastische Gesetze und harte polizeiliche Massnahmen fordert. In der Schweiz auch bekannt als der Wunsch, dass gesellschaftliche Probleme mit Strafrechtsreformen gelöst werden sollen (vgl. Verwahrungs- und Ausschaffungsinitiative). Für uns ist klar: Die Revision des Sexualstrafrechts schafft noch keine Gleichstellung per se, ist jedoch ein wichtiger Beitrag dazu. Denn mit der Zustimmungslösung wird die sexuelle Selbstbestimmung ins Zentrum von Sexualdelikten gestellt.
In der aktuellen Fassung des Strafgesetzes ist Nötigung eine Voraussetzung der Vergewaltigung. Die Nötigung erfasst Bedrohung, Gewaltanwendung, psychische Gewalt und “zum Widerstand unfähig machen”. Nötigung setzt aktiven körperlichen Widerstand der geschädigten Person voraus, ansonsten ist es keine Nötigung. Für die revidierte Fassung gibt es zwei Vorschläge für einen Paradigmenwechsel: “ohne die Zustimmung” (nur Ja ist Ja) vs. “gegen den Willen” (Nein ist Nein). Beide Ansätze wollen zwar, dass die Nötigung als Voraussetzung der Vergewaltigung wegfällt. Aufgrund von “Freezing” ist jedoch nur die «Nur Ja heisst Ja»-Lösung wirklich effektiv, um der sexuellen Integrität gerecht zu werden.
Der Begriff Penetration bedeutet das Eindringen in etwas. In Zusammenhang mit Geschlechtsverkehr geht es dabei vor allem um das Eindringen in Körperöffnungen. Penetration muss nicht zwingend mit dem Penis erfolgen, auch das Eindringen mit einem Gegenstand ist Penetration. Das Sexualstrafrecht sagt bisher explizit, dass eine Vergewaltigung nur durch eine vaginale Penetration stattfinden kann.
Jedoch: Penetration ist Penetration. Jegliche ungewollte Penetration an Menschen jedes Geschlechts verletzt die sexuelle Integrität. Der Tatbestand der Vergewaltigung sollte daher unabhängig davon sein, ob 1) die Penetration mit einem Penis, einem anderen Körperteil oder einem Gegenstand erfolgt ist und 2) welches Geschlecht diejenige Person hat, an der die ungewollte Penetration vorgenommen wurde. Der Tatbestand der Vergewaltigung ist daher gemäss unserer Auffassung auf jegliche anale, orale und vaginale Penetration auszuweiten.
Die RK ist die Kommission für Rechtsfragen, in welcher die Gesetzesentwürfe und Vernehmlassungsantworten zur Revision des Sexualstrafrechts diskutiert werden. Es gibt die RK-S für den Ständerat und die RK-N für den Nationalrat. Für uns wichtig sind momentan die Sitzungen der RK-S vom 09. und 31. August, weil dort die Weichen für ein modernes Sexualstrafrecht gestellt werden können.
In der aktuellen Version des Strafgesetzbuches sind die zur Diskussion stehenden Artikel unter “strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität” gegliedert. Sexuelle Selbstbestimmung beinhaltet neben der körperlichen Ebene auch die Ebene des Willensausdrucks, der respektiert werden soll. Der eigene Wille ist in unserer liberalen Demokratie (eigentlich) ein Grundwert.
Als begonnen wurde, verschiedene Formen der Gewalt zu unterscheiden, wurde von physischer, psychischer und sexueller Gewalt gesprochen. Mit ersterer war körperliche, mit der zweiten seelische und mit der dritten eben die intimen Bereiche betreffende Gewalt gemeint. Im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt überlappen sich diese Formen häufig, weil verschiedene Formen der Gewalt ausgeübt werden.
Im Rahmen der Gleichstellungsbewegung gibt es Stimmen, die darauf Wert legen, dass von sexualisierter Gewalt gesprochen wird, die zusätzlich den Aspekt der Machtausübung umfasst (Objektifizierung des Gegenübers: sexistische Sprüche, Anfassen ohne Zustimmung etc.) und weiter gefasst ist als die Verletzung der sexuellen Integrität im engeren Sinne.
Im Allgemeingebrauch umfasst eine Vergewaltigung ungewollte sexuelle Handlungen mit Penetration von Menschen jeden Geschlechts. In Art. 190 StGB wird die Vergewaltigung jedoch nur als “Nötigung einer Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs” verstanden. Diese gesetzliche Definition ist aus Sicht der sexuellen Selbstbestimmung aller Menschen problematisch, denn sie ist zu eng gefasst, nicht zeitgemäss und wird der Realität nicht gerecht.
Da das Sexualstrafrecht bekanntlich revidiert wird, und zwei Entwürfe in die Vernehmlassung geschickt wurden, haben auch wir eine Vernehmlassungsantwort verfasst, die ihr hier nachlesen könnt.
Als Vernehmlassungsverfahren wird grundsätzlich diejenige Phase innerhalb des Vorverfahrens der Gesetzgebung bezeichnet, in der Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer oder kultureller Tragweite auf ihre sachliche Richtigkeit, Vollzugstauglichkeit und Akzeptanz hin geprüft werden. Die Vorlage wird zu diesem Zweck den Kantonen, den in der Bundesversammlung vertretenen Parteien, den Dachverbänden der Gemeinden, Städte und der Berggebiete, den Dachverbänden der Wirtschaft sowie weiteren, im Einzelfall interessierten Kreisen unterbreitet.
Im Kontext des Sexualstrafrechts bedeutet die Zustimmungslösung (auch Zustimmungsprinzip genannt), dass eine Vergewaltigung unabhängig von einer Nötigung definiert wird, sondern es dann eine Vergewaltigung ist, wenn sexuelle Handlungen ohne Zustimmung beziehungsweise ohne Konsens (siehe “Konsens”) vorliegen. Operation Libero setzt sich für die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung ein, da nur diese das Grundrecht der sexuellen Selbstbestimmung vollumfänglich zu schützen vermag.