Die 11-Millionen-Schweiz wird gut
Ein Gedankenspiel
Die Personenfreizügigkeit ist nichts Schlechtes, sondern das beste Stück der bilateralen Verträge mit der EU. Sie wird bald noch wichtiger, denn die arbeitende Bevölkerung in Europa schrumpft. Ein Gedankenspiel zur 11-Millionen-Schweiz.
Die Zuwanderung und insbesondere die Personenfreizügigkeit werden grad mal wieder richtig runtergemacht. Der jüngste Anlass: Die EU hat der Schweiz (wieder einmal) klargemacht, dass es keine neue, einseitige Schutzklausel zur Personenfreizügigkeit geben wird. Was Sinn macht: Im gemeinsamen Markt sollen die Regeln für alle gleich sein.
Die milliardenschweren Initianten der Anti-Europa-Initiative nutzten diese Gelegenheit, um eine angebliche Unvereinbarkeit “des Schweizer Systems mit den Regeln des EU-Binnenmarktes” zu demonstrieren. Die SVP setzt mit ihrer im April eingereichten sogenannten “Nachhaltigkeitsinitiative” die Personenfreizügigkeit gar ganz aufs Spiel.
In der öffentlichen Diskussion dominieren leider die Stimmen, die die Zuwanderung und die Personenfreizügigkeit als etwas Schlechtes darstellen. Umso vehementer müssen wir für die offene Schweiz und ihre freiheitlichen Errungenschaften einstehen. Die Personenfreizügigkeit ist das beste Stück der bilateralen Verträge mit der EU. Wir verdanken ihr viel: Sie hat uns nicht nur Wohlstand, Innovation und Lebensqualität gebracht, sondern auch die Freiheit, in Europa leben, lieben und arbeiten zu können. Und sie wird angesichts der Überalterung und des Arbeitskräftemangels noch an Bedeutung gewinnen.
Um die negative Sichtweise auf die Zuwanderung zu durchbrechen, wagen wir heute einen anderen Blickwinkel: Nämlich das Gedankenspiel, dass die 11-Millionen-Schweiz gut wird. Spoiler: Sehr wahrscheinlich erreichen wir diese Zahl gar nie, dazu gleich mehr.
Die 11-Millionen-Schweiz wird gut…
…weil wir dann den Wettbewerb um viele und richtige Arbeitskräfte gewonnen haben
Wenn in der Arena mal wieder über Dichtestress oder Wachstum in die Breite gepoltert wird, geht ein wichtiger Punkt vergessen: Die arbeitstätige Bevölkerung in Europa schrumpft. Nicht nur die Schweiz wird immer älter, sondern auch Länder wie Italien, Spanien oder Portugal, woher viele Zugewanderte stammen. Länder wie Portugal versuchen nun, mit innenpolitischen Massnahmen dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken – dazu gehören auch Programme, die das Zurückkommen für Ausgewanderte attraktiv machen (zum Beispiel mit Steuergeschenken). So verliessen laut der NZZ letztes Jahr mehr Portugies*innen die Schweiz, als eingewandert sind.
Angesichts dieser Entwicklung wird es in absehbarer Zukunft nicht darum gehen, die Zuwanderung möglichst stark zu begrenzen, sondern darum, den Wettbewerb um die verbliebenen Menschen, die die Schweiz am Laufen halten, zu gewinnen. Denn ohne geht es nicht: Der Tages Anzeiger hat in einer Datenanalyse aufgezeigt, dass unsere Wirtschaft ohne Zugewanderte nicht mehr funktionieren würde und dass sie den Menschen in der Schweiz nicht den Job wegnehmen. Der Demograf Hendrik Budliger warnte in einem Interview mit der Sonntagszeitung: «Wir werden bald um Zuwanderer kämpfen müssen». Er sagt, dass es die 10-Millionen-Schweiz «mit grosser Wahrscheinlichkeit» gar nie geben wird, weil die bevölkerungszahl schon bald stagnieren und dann sogar schrumpfen wird.
Wir können uns also auf eine Schweiz mit 11 Millionen Einwohner*innen freuen. Denn das würde heissen: Die Unternehmen, Institutionen und die Gesellschaft in der Schweiz sind weiterhin innovativ und attraktiv und bieten eine hohe Lebensqualität.
…weil wir dann erkannt haben, dass die Personenfreizügigkeit die freiheitlichste Art ist, Migration zu regulieren
Die Personenfreizügigkeit ist nicht die Wurzel allen Übels, sondern die Garantin für Freiheit, Innovationsgeist und Wohlstand. Das wird klar, wenn wir uns anschauen, wie die Alternative zur freiheitlichen Personenfreizügigkeit aussehen würde.
Die Alternative zur Freizügigkeit wären Kontingente, so wie wir sie heute für Drittstaatenangehörige kennen. Das heisst: Anstatt dass die Nachfrage der Unternehmen im Markt bestimmt, wie viele und welche Arbeitskräfte benötigt werden, würde das neu planwirtschaftlich in Bern bestimmt. Anstelle eines gut funktionierenden Angebot-Nachfrage-Mechanismus würde neu diese Branche die Arbeitskräfte bekommen, die am lautesten schreit – sprich die besten Lobbyist*innen hat. Das ist ineffizient und gefährdet Wohlstand, Innovation und Lebensqualität.
Eine 11-Millionen-Schweiz bedeutet also nicht nur, dass wir erkannt haben, dass die Personenfreizügigkeit auf liberale Art und Weise dafür sorgt, dass die richtigen Personen am richtigen Ort arbeiten. Sondern sie bedeutet auch, dass wir es geschafft haben, die Drittstaatenmigration auf ähnliche Art zu liberalisieren. Denn mit einem Blick auf die demographische Entwicklung wird klar, dass wir uns im Wettbewerb um Zuwanderung nicht nur auf Europa beschränken können.
Migration sollte grundsätzlich erlaubt und nur ausnahmsweise verboten sein. Auch darum freuen wir uns auf die 11-Millionen-Schweiz. Diese Schweiz von 11 Millionen steht auch als Sinnbild für eine Schweiz, die Veränderung als Chance betrachtet und verschiedene Lebensentwürfe ermöglicht. Und eine Schweiz, die Freiheit nicht als etwas einmal Gegebenes, sondern als etwas stetig zu Erreichendes begreift. Als eine Freiheit, die ist wie Fahrrad fahren: Stehen wir still, fallen wir um. In einem solchen Verständnis müssen liberale Errungenschaften und Freiheiten wie die Personenfreizügigkeit nicht nur verteidigt, sondern auch weiter ausgebaut werden.
…weil wir dann innenpolitische Reformen umgesetzt haben, anstatt Zugewanderte zu bashen
Für die SVP ist klar: Egal ob Stau, volle Züge, steigende Krankenkassenprämien oder steigende Wohnkosten – die Ausländer*innen sind schuld daran. Dabei wird beispielsweise beim Wohnraum gerne vergessen, dass Schweizer*innen mehr Fläche beanspruchen als Ausländer*innen und dass sich die Anzahl von kleinen und damit weniger effizienten Haushalten grundsätzlich erhöht hat. Am lustigsten ist dieser Widerspruch, wenn einmal mehr ein SVP-Milliardär in einem Video auf dem Dach einer Villa am Zürisee sagt, wie uns Zugewanderte den Platz wegnehmen. Hier hätten wir auch gerne Initiativen und Vorstösse aufgelistet, mit denen sich die SVP für mehr günstige Wohnungen oder einen tieferen Stromverbrauch ausgesprochen hat. Leider haben wir keine gefunden.
Ob 5, 8 oder 11 Millionen – die Schweiz ändert sich. Und wer etwas dafür tun will, dass unsere Arbeits- und Lebensbedingungen sich nicht wegen des Wachstums der Bevölkerung verschlechtern, muss auf innenpolitische Reformen setzen. Nur so können wir die Herausforderungen – Stichworte: Digitalisierung, Raumplanung, Verkehr, Energie, Umweltschutz – gezielt angehen. Das heisst unter anderem: Wir brauchen mehr Verdichtung, nicht Ausländerbashing. Wir brauchen flexible und ortsunabhängigere Arbeitsmodelle, nicht planwirtschaftliche Kontingente.
Wir sollten uns freuen auf eine Schweiz mit 11 Millionen, weil wir es dann geschafft haben, innenpolitische Reformen anzugehen. So werden beispielsweise kaum noch Leute an fünf Tagen pro Woche um dieselbe Zeit ins Büro pendeln, die Peripherie wird dank mobilen Arbeitsformen attraktiver zum Leben und die noch grüneren Städte wachsen in die Höhe anstatt in die Breite.
Fazit
Die Personenfreizügigkeit ist Garantin für Freiheit, Innovationsgeist und Wohlstand. Sie ist die freiheitlichste Art, Migration zu regulieren. Die unmittelbare Antwort auf die Herausforderungen des Bevölkerungswachstums sind innenpolitische Reformen und nicht «Die Hau-den-Ausländer-Karte». Mittelfristig wird die arbeitende Bevölkerung schrumpfen – und es wird ein Wettbewerb um Migration geben. Das Gedankenspiel zeigt: Wir können uns auf die 11-Millionen-Schweiz freuen – auch wenn sie gar nie eintreten wird.
Doch die Personenfreizügigkeit wird einmal mehr attackiert – von der SVP mit ihrer “Nachhaltigkeitsinitiative” und den Anti-EU-Milliardären der Kompass-Initiative. Stehen wir also gemeinsam ein für eine offene Schweiz und ihre freiheitlichen Errungenschaften.
Verfasser: Renato Perlini, Vorstandsmitglied Operation Libero