Die Personenfreizügigkeit gibt den Menschen Menschlichkeit
Ihre Kündigung nimmt sie ihnen
Die so genannte «Begrenzungsinitiative» von SVP und AUNS fordert die Kündigung der Personenfreizügigkeit (PFZ). Die Allianz gegen die Initiative ist ebenso breit wie die Palette der Gründe für ein Nein. Oft wird vom grossen wirtschaftlichen Schaden gesprochen, den eine Kündigung verursachen würde. Das ist wichtig. Wichtig ist aber auch: Die PFZ gibt den Menschen Rechte, Freiheit und Würde. Kurz: Sie gibt den Menschen Menschlichkeit. Die Kündigung der PFZ würde sie ihnen nehmen. Das ist der Hauptgrund, weshalb sich Operation Libero mit aller Kraft für ein Nein zur Kündigungsinitiative einsetzt.
von Stefan Schlegel, Vorstandsmitglied Operation Libero
Wenn wir am 27. September über die Kündigungsinitiative abstimmen, dann müssen wir nicht nur vor Augen haben, wie die Personenfreizügigkeit (PFZ) unseren Wohlstand sichert. Wir müssen uns auch bewusst sein, was sie uns und allen anderen Menschen in Europa bringt: Das Recht, überall in Europa zu leben, zu lernen, zu arbeiten und zu lieben. Das Recht, Rechtsträger zu sein. Die SVP will, dass wir Schweizerinnen und Schweizer dieses Recht aufgeben, indem wir die PFZ kündigen – und damit auch die Bilateralen I. Let’s face it: Das ist das ganze Ausmass dieser leichtsinnigen und verantwortungslosen Initiative. Ihre Annahme würde nicht nur die Ausländer in der Schweiz wieder zu Bittstellern machen. Auch wir Schweizerinnen und Schweizer würden in Europa wieder zu Bittstellern.
Ein Ja würde grossen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Darauf weisen viele hin in diesem Abstimmungskampf und machen das zu ihrem zentralen Argument: Der Bundesrat, die Gewerkschaften, die Wirtschaft und die Parteien. Völlig zurecht, keine Frage. Wir dagegen stellen Menschen ins Zentrum unserer Kampagne, die alle auf ihre Weise von den Rechten Gebrauch machen, die ihnen die PFZ gibt. Und wir warnen damit vor dem Schaden für die Menschlichkeit, den eine Kündigung der PFZ anrichten würde.
Recht statt Willkür
Wir rücken damit einen Aspekt der PFZ in den Fokus, der in der Diskussion meist vergessen geht: Die PFZ ist eine freiheitliche Errungenschaft, die es zu verteidigen lohnt. Der Weg dahin war steinig. Das Migrationsrecht war nämlich lange ein Willkürreservat, also ein Rechtsgebiet, in dem Menschen kaum Ansprüche haben – anders als etwa das Baurecht, wo man einen Anspruch auf Erteilung einer Baubewilligung hat, wenn man die Bedingungen erfüllt.
Im Migrationsrecht hingegen hatten die Behörden lange praktisch unbegrenztes Ermessen. Vor der Einführung der PFZ lag Migration – und ihre Beendigung – weitgehend im Ermessen der Behörden. Ob jemand kommen durfte oder nicht, ob jemand arbeiten durfte oder nicht, ob jemand sein Pensum aufstocken, seinen Arbeitgeber wechseln, die Branche wechseln, den Kanton wechseln, seine Familie nachziehen, und irgendwann wieder gehen musste: All das war weitgehend dem Ermessen einer Fremdenpolizei überlassen.
Deportabilität, also das Risiko, jederzeit aus dem Land gewiesen zu werden, war deshalb eine konstante Lebenserfahrung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz. In manchen Fällen zog sich diese nagende Unsicherheit über Jahrzehnte hin. Über der Existenz eines Ausländers oder einer Ausländerin in der Schweiz (und über jener von Schweizerinnen und Schweizern im Ausland) hing – jedenfalls solange noch keine Niederlassungsbewilligung erreicht war – permanent ein Damoklesschwert. Ein Wechselfall des Lebens, ein Unfall, der Verlust einer Arbeitsstelle, Sozialhilfeabhängigkeit, eine Trennung, ein Todesfall in der Familie etc. haben dazu geführt, dass eine ganze Lebenswelt in Frage stand. Viele Kinder waren illegal in der Schweiz, weil den Eltern der Nachzug nicht bewilligt wurde.
Kafkaeskes Machtgefälle
Es war eine Polizeibehörde, die Fremdenpolizei, die darüber entschieden hatte, ob eine ganze Lebenswelt, die in der Schweiz aufgebaut worden war, verloren geht. Der Rechtsschutz gegen solche Entscheide war – wie dies heute noch für Drittstaatsangehörige der Fall ist, besonders im Asylwesen – stark eingeschränkt gegenüber dem normalen Verwaltungsverfahrensrecht. Der Grund dafür: Es bestand kein Rechtsanspruch auf ein Hiersein oder Hierbleibendürfen; das stand im Ermessen der Behörden.
Es ist diese kafkaeske Erfahrung eines enormen Machtgefälles zwischen einer Behörde und einer rechtssuchenden Person, die Erfahrung, Bittsteller und Ausgelieferter zu sein, die die prägende Erfahrung des alten Migrationsrechtes war. Und es ist dieses Machtgefälle zwischen Fremden und Einheimischen, das SVP und AUNS zurückwollen. Angelegt ist dieses Machtgefälle nicht nur in der Kündigungsinitiative, sondern schon in der Masseneinwanderungsinitiative (MEI). Die Kündigungsinitiative soll jener zum Durchbruch verhelfen. Sie ist die Durchsetzungsinitiative zur MEI.
Und genau genommen sind die beiden Initiativen in ihrer Kombination noch etwas schlimmer, als einfach eine Neuauflage der alten Fremdenpolizei: Die Initianten wollen ein System, das in der Herstellung eines Machtgefälles zwischen Ausländer und Behörden noch viel weiter geht, als dies früher der Fall war. Neu wären nämlich sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts kontingentiert – und ihre Erteilung also vom Ermessen einer Behörde abhängig. Das war früher nie so. Früher waren lediglich die Bewilligungen für die Zulassung zum Arbeitsmarkt kontingentiert. Nicht die Bewilligungen für den Familiennachzug, oder für Rentner, Studierende, oder Flüchtlinge. Gemäss dem System der MEI müssten deren Erteilung neu ebenfalls kontingentiert werden. In ihrem Zusammenspiel würden die Initiativen einer Fremdenpolizeibehörde daher ungeheure Macht über das Leben von Menschen einräumen.
Personenfreizügigkeit: der grosse Sprung nach vorn
Einiges am Willkürreservat Ausländerrecht wurde schon vor der PFZ besser. Nicht auf Grund der Einsicht, dass diese Art von Ausländerrecht für alle problematisch ist, sondern auf Grund des Druckes durch das internationale Recht und durch die Herkunftsstaaten der Migrierenden. So setzte Italien 1964 ein Abkommen durch, das die Rechtsstellung von Italienern in der Schweiz verbesserte und die Europäische Menschenrechtskonvention bot einen gewissen Schutz, wo Familien von der Trennung bedroht waren.
Aber der grosse Emanzipierungsschub – für diejenigen, die von ihr profitieren – war die PFZ. Sie vermittelt einen Anspruch (und entsprechenden Rechtsschutz) auf einen Aufenthaltsstatus, der in der Regel auch die Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit oder den Tod eines Familienmitgliedes überdauert. Behörden können nicht mehr freihändig ermessen, ob sie eine Bewilligung erteilen oder entziehen wollen; sie können nur noch überprüfen, ob die entsprechenden Kriterien erfüllt sind oder nicht.
Die PFZ legte darum ein behördliches Willkürreservat trocken. Das Ergebnis ist ein persönlicher, individueller Raum der Entfaltung, in dem man atmen und leben kann und sein Leben planen kann, fast so, als wäre man Inländerin respektive Inländer. Wechselfälle des Lebens stellen nicht mehr eine ganze Lebenswelt in Frage. Zum privaten Unglück, das einem immer zustossen kann, tritt nicht noch die Ohnmacht und das Ausgeliefertsein gegenüber der Obrigkeit hinzu. Unter der PFZ ist man nicht nur sicher, solange man Produktionsfaktor ist. Man ist Mensch und wird als solcher, mit seinem Bedürfnis nach Familie, nach Sicherheit und nach Entfaltungsmöglichkeiten geschützt und ernst genommen.
Eine Geschichte, die niemand erzählt
Es ist ein allgemeines Merkmal der Migrationspolitik, dass Migrierende selber, um die es eigentlich geht, keine Stimme haben. Es wird über sie bestimmt, statt mit ihnen. Auf institutioneller Ebene ist das bei der PFZ anders. Hier haben die Migrierenden, in der Form der EU-Kommission, des Europäischen Parlamentes und des Rates mächtige Fürsprecher, und mit dem Binnenmarkt auch einen mächtigen Hebel für ihre Interessen. Wird der Binnenmarktzugang mit einer Guillotine-Klausel an den Zugang zum Arbeitsmarkt gekoppelt, so ist das ein sehr effektives Mittel, um das Interesse dieser Migrierenden durchzusetzen, Rechtsträger zu sein und nicht bloss Bittsteller.
Aber in der politischen Debatte bei uns in der Schweiz ist ihre Stimme dennoch kaum zu hören und ihre Geschichte kaum erzählt. Das hat etwa die Medienkonferenz des Bundesrates mit den Sozialpartnern eindrücklich gezeigt: Hier erzählen die Arbeitgeber die Geschichte, wie wichtig es für sie ist, unbürokratisch zu Fachkräften zu kommen. Aber die Geschichte der Fachkraft, ihre Erfahrung, nun nicht mehr der Willkür der Behörden ausgeliefert zu sein, erzählt niemand. Die Arbeitgeber betonen die Bürokratie, welcher die Unternehmen ausgeliefert sind. Die Bürokratie, die Unsicherheit, das Ohnmachtsgefühl, dem Individuen ausgeliefert sind, solange sie bei den Behörden nur Bittsteller sind, erzählen sie nicht.
Die Gewerkschaften, deren Kerngeschäft kollektive Interessensvertretung ist, erzählen die Geschichte, wie die flankierenden Massnahmen es ihnen erleichtert haben, kollektive Verhandlungen zu führen, mehr Arbeitnehmer Allgemeinarbeitsverträgen zu unterstellen etc. Aber die Geschichte, dass die emanzipierende Wirkung der PFZ gegenüber den Behörden auch eine emanzipierende Wirkung gegenüber den Arbeitgebern nach sich zieht, erzählt niemand.
Dabei ist es offensichtlich: Wenn mein weiterer Verbleib in der Schweiz (und der Verbleib meiner Familie) nicht mehr von einer bestimmten Arbeitsstelle abhängt, dann steigt meine individuelle Verhandlungsmacht. Ich kann von meinem Arbeitgeber mehr fordern, ich kann ihm sagen, dass ich auch in einen anderen Job wechseln könne, wenn er mir nicht entgegenkomme.
Dem Menschen Menschlichkeit geben
Die Emanzipation gegenüber dem Staat hat also auch eine Emanzipation gegenüber Arbeitgebern zur Folge. Das Machtgefälle sinkt nicht nur gegenüber der Fremdenpolizei, sondern auch gegenüber dem Chef. Das nützt allen Arbeitnehmern in der Schweiz, auch den Schweizerinnen und Schweizern, weil sie nun nicht mehr von einer Reservearmee disponibler, prekärer, ausbeutbarer Gastarbeiter konkurrenziert werden. Aber weil es eine Emanzipation ist, die jede und jeder alleine wahrnimmt, ist es eine Geschichte, die weder von der Wirtschaft noch vom Staat oder den Gewerkschaften erzählt wird.
Darum: Wenn wir von Operation Libero nicht die Geschichte erzählen, wie die PFZ emanzipiert, einen aufrechten Gang ermöglicht, ein staatliches Willkürreservat trockengelegt und so vielen Menschen Menschlichkeit gegeben hat, dann erzählt sie niemand.