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Jetzt nicht vom Trick des Brandstifters ablenken lassen
Keller-Sutters Reaktion auf Vances Rede
Vergangenen Freitag hielt J. D. Vance seine erste Rede seit Amtsantritt an der Münchner Sicherheitskonferenz. Als “bizarren intellektuellen Tiefflug” bezeichnete das Handelsblatt deren Inhalt. J. D. Vances Rede hat empört, aber nicht wirklich überrascht. Vance liefert, was von ihm zu erwarten war. Was jedoch beunruhigt, gar schockiert, ist die Reaktion unserer Bundespräsidentin und einiger Zeitungskommentator*innen. Sie loben Vance, sie normalisieren seine Politik. Bundesratspräsidentin Keller-Sutter hat Vances klare Angriffe auf die Brandmauer und Grundrechte lieber als “Plädoyer für die direkte Demokratie” lesen wollen und Vances verzerrtes Verständnis von Meinungsfreiheit, welches sich über jedes Grundrecht und Gegenrede hinwegsetzt, legitimiert.
Das ist brandgefährlich. Hier folgt ein Versuch aufzuzeigen, weshalb die Rede und Reaktion der Bundespräsidentin so gefährlich sind - und worum es wirklich geht.
Irgendein externer Akteur
Vance sagt: „Die Bedrohung, die mich in Bezug auf Europa jedoch am meisten besorgt, ist nicht Russland, nicht China, nicht irgendein anderer externer Akteur.“
Damit ist Vances Rede eine Zeitenwende. Ein Hohn für das transatlantische Bündnis. Eine Neukalibrierung der internationalen Ordnung. Russland hat ein souveränes, europäisches Land militärisch angegriffen und China ist die grösste autoritäre Macht der Welt. Beide destabilisieren nachweislich mit Fake News und hybrider Kriegsführung die westlichen Demokratien und versuchen, Wahlen zu beeinflussen. Beide unterdrücken in ihren Ländern Andersdenkende und Minderheiten - systematisch, radikal und tödlich. Wenn also der neue Vizepräsident der USA in seiner ersten Amtsrede in Europa, notabene an der Sicherheitskonferenz, diese Aussage zum Schwerpunkt seiner Rede macht, dann ist klar: das transatlantische Bündnis gegen die grössten autoritären Mächte der Welt ist zu Ende. Oder wird mindestens aufs aller Härteste auf die Probe gestellt.
Propaganda-Bots in Rumänien
Vance sagt: „Was mich besorgt, ist die Bedrohung von innen.“
Damit meint er, wie er in seinen Beispielen klarmacht, nicht die erstarkenden rechtsradikalen Kräfte, sondern er meint damit demokratisch gewählte Regierungen. Er meint damit Gerichte, eine zentrale Säule von Demokratien. Er meint Gesetze zum Schutz von Minderheiten. Er meint also die Basis unseres Systems: unsere liberalen Verfassungen, Gewaltenteilungen, Grundrechterechte - und den Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.
Vance nennt die annulierten Wahlen in Rumänien als Beispiel für seine These, dass die Meinungsfreiheit bedroht ist. Die Wahlen sollen nach einem Entscheid des Verfassungsgerichts wiederholt werden, weil die Wahlen nachweislich mittels hybrider Kriegsführung unterwandert wurden: Einmischung Russlands, illegale Wahlkampffinanzierung, Favorisierung eines Kandidaten durch die chinesische Online-Plattform TikTok, Hinweise auf 25.000 russische Propaganda-Konten während des Wahlkampfes, 85.000 dokumentierte versuchte Cyberattacken. Rumänien ist somit ein Beispiel dafür, was droht, wenn wir der hybriden Kriegsführung nicht entschieden Paroli bieten. Dieser Gerichtsentscheid zum Schutz der rumänischen Demokratie versteht Vance also als Bedrohung für die Demokratie. Die demokratiegefährdende Einmischungen durch autokratische Staaten voller Falschaussagen als Meinungsfreiheit.
Die Botschaft und der Botschafter
Vance spricht in München, Deutschland. Zu Europa, vor allem aber zu Deutschland. Gegen die deutsche Regierung und für die AfD. Kurz vor den Wahlen macht ein Vizepräsident eines anderen Landes unverhohlen Wahlwerbung für eine populistische und extreme Partei und gegen die amtierende Regierung und mischt sich damit in den demokratischen Prozess eines souveränen Staates ein. Man stelle sich vor, Xi Jinping träte im Hallenstadion auf und würde unverhohlen eine Kampagne gegen unseren Bundesrat starten.
Es geht nicht nur um die Botschaft, sondern auch um den Sender: Vance spricht von Meinungsfreiheit und Demokratie und deren Werte, während seine Regierung gerade alles streicht und unterdrückt, was mit Diversität und Inklusion zu tun hat; Minderheitenrechte einschränkt; gegen Medien vorgeht; gegen Gerichte vorgeht; Verordnungen erlässt, die wahrscheinlich gesetzeswidrig sind; das Parlament übergeht; Leuten die gegen Trump waren mit Gefängnis droht; und wiederum alle begnadigt, die das Kapitol stürmten. Vances Regierung hat keine liberale, sondern eine autoritäre Strategie, die Meinungsfreiheit nur für Gleichgesinnte versteht und jede Gegenrede, jeder Hinweis auf die für alle geltenden Regeln und insbesondere jede Brandmauer gegen extremes Gedankengut als Zensur versteht.
Meinungsfreiheit ohne Grenzen
Der Vorwurf, in Europa werde gerade die Meinungsfreiheit abgeschafft, ist angesichts der Tatsache, das in Deutschland eine Wahl ansteht, mit der AfD als eine der vermeintlichen Gewinnerin, schlicht absurd. In einer Demokratie soll und kann jede*r eine eigene Meinung bilden und diese auch teilen. Aber es ist genauso Teil einer Demokratie, dass andere diesen Aussagen (insbesondere Falschaussagen) widersprechen dürfen, Parteien nicht mit Parteien zusammenarbeiten wollen und Menschen auf die Strasse gehen, um zu zeigen, dass sie nicht derselben Meinung sind - also auch Gebrauch ihrer Meinungsfreiheit machen. Und wie jede der Freiheiten, so ist die Meinungsfreiheit in modernen Demokratien unter dem liberalen Grundsatz geregelt, dass die eigene Freiheit da endet, wo die Freiheit des anderen anfängt. Die Meinungsfreiheit ist nicht absolut, sondern spielt im Rahmen der Gesetze, welche für alle gelten. In der Schweiz haben wir dazu beispielsweise u.a. 2020 die Erweiterung der Anti-Rassismus-Strafnorm angenommen. Ganz demokratisch mit 63,1 % Ja-Stimmen. Darum ist es auch keine Zensur, wenn strafrechtlich relevante Hassrede nicht geduldet wird.
Der Trick des Brandstifters
Das mit der Meinungsfreiheit kann man durchaus auch kritischer sehen und das Problem durchaus auch teilweise in einer gelegentlich zu weit greifenden “cancel culture” sehen. Die Debatte darüber, was unter Meinungsfreiheit fällt oder nicht; wo die Grenzen liegen oder ob es gar keine gibt, ist eine wichtige Debatte. Aber darum geht es hier nicht - nicht wirklich. Es ist ein Trick, auf den wir nicht hereinfallen dürfen: Es geht Vance nicht um eine Diskussion über die Meinungsfreiheit. Es geht nicht um Inklusion von Minderheitsmeinungen. Es geht um das Aushöhlen und Untergrabung der liberalen Demokratie. Es geht um Macht und Kontrolle.
Es ist, wie wenn man in Ruhe einem Brandstifter zuschaut, der gerade das Haus in Flammen steckt und dazu nur sagt: „Aber mit seiner Kritik an der Inneneinrichtung des Wohnzimmers hat er ja schon recht.“
Gerade darum sind die Reaktionen unserer Bundespräsidentin mehr als fragwürdig. Nicht in erster Linie wegen dem, was sie sagt, sondern wegen dem, was sie nicht sagt. Die Reaktion auf die Rede eines Brandstifters, der damit unsere wichtigsten europäischen Verbündeten brüskiert, sich damit offen in die Wahlen unseres Nachbars einmischt, das transatlantische Bündnis in Frage stellt, Russlands und Chinas autoritäre Politik relativiert und im Grunde das Wesen unserer liberalen Demokratien angreift, sollte eben nicht sein “Mit seiner Kritik an der Inneneinrichtung des Wohnzimmers hat er vielleicht recht”. Das ist der Schweiz und ihren liberalen Grundwerten schlicht unwürdig.
Die liberale Demokratie und das freiheitliche Europa stehen ihrer grössten Herausforderung gegenüber. Hier braucht es die notwendigen und energischen Reflexe - gerade von liberalen Vertreter*innen und Bundesratspräsident*innen, von unserer Regierung. Die Inneneinrichtung kann und soll stetig neu verhandelt werden, also die wichtige Debatte, was durch die Meinungsfreiheit geschützt wird und was berechtigt oder unberechtigterweise zensiert wird. Aber dabei dürfen wir das Haus nicht vernachlässigen: Das Haus – also die liberale Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die liberalen Grundwerte – wird gerade heftigst angegriffen. Wir müssen jetzt mit den anderen Bewohner*innen des Hauses zusammenstehen und den Brandstiftern (von innen wie von aussen) klar und deutlich Paroli bieten. Denn Vance, Russland oder China geht es nicht um die Inneneinrichtung. Sie sind Brandstifter. Und ein Hausbrand wird kaum je die richtige Lösung für ein Einrichtungsproblem sein.
Verfasserin:
Valentina Spillmann,
Kampagnen & Creative
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