
Brüssel, Sie verstehen!
Eine Dystopie von Toni Saller
2037: Paul Wettstein ist der 63. Chefunterhändler der Schweizerischen Eidgenossenschaft für ein institutionelles Rahmenabkommen mit der EU. Er sitzt im Zug nach Brüssel und sinniert über Gott und die Welt, in seinem Fall also über die Schweiz und die Europäische Union. Die Reise muss er aus eigener Tasche berappen, die regierende SVP hat Spesen, die im Zusammenhang mit der EU anfallen, vor einigen Monaten gestrichen. Dass es sein Mandat überhaupt noch gibt, grenzt an ein Wunder. Wie konnte die einst so sakrosankte Konkordanzdemokratie, die es allen recht machen wollte, zu einer Einparteien-Herrschaft verkommen? Wettstein würde die Farce seiner diplomatischen Aufgabe gerne beenden. Er bestellt sich aus dem Speisewagen einen Kaffee, lehnt sich zurück, um seine bösen Gedanken in einen glasklaren Plan zu verwandeln ...
Die Klimaanlage im Zug funktioniert auch bei Wettsteins dritter Reise nach Brüssel nicht. Die einst stolze SBB, die Schweizerischen Bundesbahnen, wurden nach der Machtübernahme durch die SVP im Jahre 2033 sofort privatisiert und hiessen nun SVB, also Schweizerische Volksbahnen. Was das bedeutete, können Sie sich vorstellen: Die Qualität sank ins Bodenlose. Zum Glück ist dieser 1. November 2037 mit seinen 32 Grad kein Hitzetag mehr, die Schwelle dafür wurde gerade erst auf 38 Grad angehoben. Immerhin ist das Dreisternehotel, das ihn erwartet, mit einem Ventilator ausgestattet.
Zu verdanken hat er die miesen Umstände einer Volkspartei, die zwar nie eine absolute Mehrheit an einer demokratischen Wahl errungen hatte, mit ihrem populistischen Gelaber jedoch eine genügend große Mehrheit weichklopfen konnte, um die so vielgerühmte Konkordanz in der kleinen Alpenrepublik aus den Angeln zu heben. Die Wahl 2031, an der die SVP 45 % der Wählerstimmen mit dem Slogan 'Schweiz zuerst' errungen hatte, zusammen mit den Freisinnigen (FDP), die gerade noch 7,5 % mit ihrem Jahrhundertspruch 'weniger Staat mehr Freiheit' schafften, war der Beginn einer Mehrheitsdemokratie.
Die dann gerade mal ein Jahr hielt, weil die restliche Moral der FDP es nicht zulassen konnte, dass 15 % aller Bewohner der Schweiz, von Flüchtlingen bis zu Arbeitslosen, Invaliden und Sozialhilfe-Bezügern systematisch ausgegrenzt wurden. Aus der Mehrheitsdemokratie wurde in der Sprache der SVP eine Volksdemokratie, im gängigen politischen Diskurs Einparteien-Diktatur genannt.
Paul Wettstein hatte das alles als parteiloser Anwalt mit eigener Praxis, die auf internationales Recht spezialisiert war, aus Distanz an sich vorüberziehen zu lassen versucht. Als zu Beginn des Jahres 2037 die EU wieder einmal damit drohte, die seit Jahrzehnten andauernde Obstruktionspolitik der Schweiz so zu beenden, dass man ihr den Zugang zum Binnenmarkt verweigern würde, suchte man im Aussendepartement nach einer neuen, für Brüssel akzeptablen Vertrauensperson, um eine xte Verlängerung der Gespräche zu erwirken. Eine mittlerweile rar gewordene Spezies von Diplomaten, die Suche entpuppte sich als eine im Heuhaufen. Als dann Wettsteins Name fiel, wurde ihm vonseiten der Regierung das Messer an den Hals gesetzt und man schickte ihn mit weiteren Instruktionen der Obstruktion zur EU: Brüssel, Sie verstehen!
Paul Wettstein erinnerte sich: 2024 kam es zu einem vorläufigen Vertragsabschluss mit einem für die SVP inakzeptablen Passus, dass in Streitfragen der EU-Gerichtshof als letzte Instanz sei. Zu viel des Guten! Die SVP war sich nicht zu schade, Fake News und Lügen auszupacken, um gegen die neuen Abkommen zu kämpfen. Sie sprach von Unterwerfung, sagte der Schweiz Gräueltaten wie während der Kolonialherrschaft voraus und bezeichnete die EU als Bürokratiemonster, dem es zu entkommen galt. Vor lauter Gespenstern an der Wand konnte das Volk nachts nicht mehr schlafen. Vielleicht befand sich das EU-Monster ja schon unter dem eigenen Bett und würde gleich zubeissen… Die sogenannten Bilateralen III scheiterten schliesslich grandios an der Urne: Brüssel, Sie verstehen! Dieser weitere Erfolg wurde zum Nährboden für die folgenden Wahlerfolge der Partei und Abstimmungskampagnen mit kafkaesker Absurdität zur Norm.
Wettstein zückt sein Smartphone. Letzte Nacht wurde Release 8.2.3 der Schweizer Volksapp installiert. Eine App, die seit guten drei Jahren allen Entscheidungsträgern zur Pflicht gemacht wurde. Entscheide müssen unverzüglich in volkstümlicher Sprache eingegeben werden und poppen ebenso unverzüglich in der Version für die Schweizer Bürger als Aktivfragen auf. Mit einem erhobenen oder gesenkten Daumen äussern die Bürger ihre Zustimmung oder Ablehnung zu dem geplanten Vorhaben. Das Resultat wird dem Auslöser der Anfrage übermittelt und er ist dazu angehalten, nein, dazu verpflichtet, unverzüglich entsprechend dem Volkswillen zu agieren.
'Wollt ihr die totale Demokratie?', frotzelt Wettstein vor sich hin, 'wir haben sie jetzt!' Außer natürlich, das Volk stimmt gegen eine Doktrin der regierenden SVP, dann kommt der sogenannte Korrekturbutton in Aktion, der die Resultate der Abstimmung als Fake identifiziert und auf Linie hin korrigiert.
Eigentlich interessierte sich Paul Wettstein gar nicht für Politik, er hatte Ethnologie studiert, er wollte die Welt besser verstehen, eine Vorbedingung, wie er meinte, um sie verändern und verbessern zu können. Er hatte aus opportunistischen Gründen den Juristenweg eingeschlagen, es gibt keine Jobs für Ethnologen und Weltversteher.
Diesmal aber sollte man von ihm Notiz nehmen, er wird den Herrschaften in Bern schon zeigen, wo der Bartli den Most holt. Brüssel, Sie verstehen!
Niemand erwartet Wettstein am Bahnhof, schon gar keine Limousine. Er nimmt die Trambahn und trillert ein Liedchen vor sich hin. Im prägnanten EU-Gebäude meldet er sich am Empfang, wo man ihm Zimmer 846 zuweist, er solle da auf seinen Gesprächspartner warten.
War er früher nervös, wenn er 10 Minuten auf sein Gegenüber warten musste, so surft Wettstein diesmal ruhig mit seinem uralten Smartphone von 2028 im World Wide Web herum, es sei noch immer das sicherste, sagen die Experten, wobei Smartphones nur noch die wenigen Menschen nutzen, die Angst vor einer Chip-Implantation haben oder vortäuschen.
Sein Gegenüber, der Deutsche Ralph Hildesheimer von der CSU, nickt zur Begrüssung bedeutungslos, als er in das karge, mit nur einem kleinen Tisch und zwei Stühlen ausgestattete Zimmerchen tritt. Er ist ein alter Fuchs und Kenner der Schweizer Geschichte, er weiss, dass diese Willensgemeinschaft noch im 19. Jahrhundert ein armes Bergvolk war, das sich mit Käse und anderen fettreichen Milchprodukten über Wasser hielt. Hildesheimer wusste auch um die heute prekäre Situation der Schweizer Wirtschaft. Seit der damals noch konkordant funktionierende Bundesrat 2021 ein bereits auf dem Tisch liegendes Rahmenabkommen den Bach hinunter schickte, ging es abwärts mit dem einst so reichen Alpenland. 2031 waren zum ersten Mal mehr Menschen ausgewandert als eingewandert. Die SVP feierte das zwar als Sieg und Beweis für den Erfolg ihrer restriktiven und menschenunwürdigen Ausländerpolitik, aber dass auch unersetzbare Fachkräfte das Land verliessen, konnte selbst sie nicht länger ignorieren.
„Na, dann wollen wir mal.“ Hildesheimer reisst den scheinbar abwesenden Wettstein aus seinen Gedanken, „über was wollen wir heute sinnieren, ich schlage vor das Schiedsgericht für Streitfälle ... also ich habe nochmals Rücksprache gehalten …“
„Nein, nein“, interveniert Wettstein rasch, „heute einigen wir uns innerhalb einer Stunde über den ganzen Vertrag, und zwar so, wie Sie ihn gerne haben möchten ...“
Wettstein winkt in der Folge jeden früher mit Bandagen umkämpften Paragrafen kritiklos durch. Ein EU dominiertes Schiedsgericht für Streitfragen: anstandslos als letzte Instanz genehmigt. 2028 hatte die Schweiz das paritätische Schiedsgericht noch als zu 'eingreifend und unfair' quittiert. Hildesheimer wollte seinen Augen und Ohren nicht trauen. 'Fremde Herren', Sie verstehen.
„Klingt vernünftig, was Sie da sagen“, ist schliesslich das Fazit von Hildesheimer und die beiden schütteln sich zu ihrem unerwarteten Verhandlungserfolg verhalten euphorisch die Hände. Auf EU-Seite weicht die Euphorie jedoch schnell einer gewissen Skepsis: „Moment mal, müssen Sie in ihrer sogenannten direkten Demokratie nicht jedes Verhandlungsresultat sofort mit ihrer sagenhaften App genehmigen lassen?“ Hildesheimer kennt seine Pappenheimer und blickt fragend zu seinem Gegenüber. „Das werde ich sogleich während meines Lunches erledigen. Dann treffen wir uns in einer guten Stunde zur hoffentlich vom Schweizer Volk sanktionierten Unterschrift wieder. Mein lieber Ralph, ich darf Sie doch jetzt duzen, beantworten Sie mir noch eine Frage: Wieso hat die EU der Obstruktionspolitik der Schweiz so lange tatenlos zugeschaut?“
„Mein lieber Paul, liegt das nicht auf der Hand? Es gibt in der EU genügend einflussreiche Kreise, denen eine autonome Insel Schweiz nützlicher ist als eine Schweiz, die EU-Recht und Regeln respektiert, Stichwort Steuern, Uli Hoeness und so weiter, Brüssel Du verstehst?“ Die beiden lachen herzhaft, schütteln sich zur Mittagspause noch einmal freundschaftlich die Hand und Hildesheimer verabschiedet sein Gegenüber mit den Worten: „Ich organisiere in der Zwischenzeit
noch keine Pressekonferenz, aber falls nötig, unterhalte ich immer eine Flasche Champagner im Kühlfach.“
Wettstein zieht sich zur Formulierung der Abfrage in sein Hotelzimmer zurück. Nach kurzem Überlegen formuliert er seine Frage ans Schweizer Volk.
Hildesheimer kehrt nach einem wohlschmeckenden Entrecôte Café de Paris in einem nahe gelegenen Feinschmecker-Lokal für Diplomaten zwar gesättigt an den kleinen Verhandlungstisch zurück, jedoch ohne grosse Zuversicht, dass das Schweizer Volk dem Rahmenabkommen zugestimmt haben könnte.
Wettstein erscheint ungesättigt, aber mit überschwänglicher Feierstimmung aus der Mittagspause. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, hält er ihm die Wahl-App vor die Augen. Hildesheimer will diesen nicht trauen: Ein Schweizer Ja für ein institutionelles Rahmenabkommen mit 94 % Zustimmung? Wer hätte das gedacht. Hildesheimer kann sich eine Frage nicht verkneifen: „Wie lautete genau die Frage, die sie dem Schweizer Stimmvolk zukommen ließen?“
Liebe Schweizerinnen und Schweizer, wollt Ihr weiter zusehen, wie unsere geliebte Heimat im Schatten rückwärtsgewandter, zerstörerischer Kräfte versinkt, während wir uns immer weiter isolieren, unsere Wirtschaft ausgehöhlt wird, qualifizierte Fachkräfte abwandern, Arbeitsplätze verloren gehen, unsere Sicherheit aufs Spiel gesetzt wird, unsere Energieversorgung nicht mehr garantiert werden kann, unsere Jugend in Perspektivlosigkeit versinkt, unsere Spitäler mit Arzt- und Krankenpflegermangel kämpfen müssen und unsere Forschung- und Bildungsinstitute aufgrund von Wettbewerbsunfähigkeit schliessen müssen – in anderen Worten: Wollt ihr das Ende der Schweiz?
“Das ist die längste jemals gestellte Frage in der Geschichte der Schweizer Demokratie”, grinste Wettstein breit und sichtlich stolz. Hildesheimers Gesicht nimmt nachdenkliche, ja fast schon gravierend ernste Züge an: “Und die einzige Formulierung, die selbst die SVP nicht ablehnen kann. Die Zerstörung der Schweiz geht gegen ihre eigene Doktrin. Sehr schlau, sehr sehr schlau…”
ENDE
Verfasser: Toni Saller, 1956 geboren, ist Ethnologe und Informatiker. Er ist gebürtiger Zürcher und lebt heute in Rüdlingen (SH) - und zeitweise auch in Brasilien. Seit 2014 nutzt er die freie Zeit seiner Pensionierung, um als freier Autor und Künstler seinen Leidenschaften nachzugehen.
