Ich weiss. Wir müssen jetzt zu unseren Nächsten und uns selbst schauen. Ja. Aber.
Ein Meinungsbeitrag von Libera Anja
Anja sollte jetzt eigentlich im Irak Menschen helfen. Stattdessen sitzt sie (muss) in der Schweiz fest, in einem Haus mit bequemer Couch und vollem Weinkeller - und macht sich Gedanken um die Leute, die an weniger glücklichen Orten gestrandet (worden) sind.
Covid-19 kennt kein Privileg, sagen wir. Covid-19 kennt keine Grenzen, sagen wir. Covid-19 lässt uns alle zusammenstehen – mit Abstand, versteht sich – sagen wir.
Ich sage: nein, Covid-19 kennt sehr wohl Privilegien, Grenzen und lässt uns zwar im kleinen Rahmen zusammenstehen, aber nicht für das grosse Ganze.
Dazu drei Dinge:
Erstens: Die grosse Welle Solidarität die wir im Kleinen, hier in der Schweiz sehen können freut mich. Ich ziehe meinen Hut vor jeder, die für ihre Grosseltern einkaufen geht, vor jedem, der dem Gesundheitspersonal danke sagt, und vor allem vor allen, die zuhause bleiben. Das ist schön, das stimmt zuversichtlich, das ist wichtig.
Zweitens aber, sorge ich mich. Um die Leute, die an weniger glücklichen Orten gestrandet sind als ich. Seit Anfang März sollte ich zurück sein in Erbil, der Kurdistan-Region im Irak. Dort arbeite ich seit eineinhalb Jahren im humanitären Bereich. Ich konnte nicht zurückreisen, ich stecke sozusagen fest hier in Winterthur, im Haus meiner Eltern und meiner Jugend. Sei doch froh, sagen viele, du bist hier, bei deiner Familie, und in der reichen Schweiz, mit ihrem guten Gesundheitssystem. Ja, sage ich denen, ihr habt recht. Ich habe das Glück, in meiner Heimat festzustecken, wenn auch im gefühlten Auge des Sturms, jedoch mit meiner Familie, in einem warmen Haus, mit vollem Kühlschrank, und – last but most certainly not least – guter Auswahl im Weinkeller. Ich habe Glück. Ich bin nicht gestrandet in einem Flüchtlingslager in Griechenland, in der Türkei, in Libyen, oder eben im Irak, wo nicht wenige meiner ArbeitskollegInnen an eben diesem Ort leben. Ich mache mir Sorgen, nicht nur um meine ArbeitskollegInnen, sondern um jede und jeden Einzelnen in dieser Situation. Ich mache mir Sorgen um ihre Gesundheit. Um ihre kaum existierenden Möglichkeiten, sich an all die Regeln zu halten mit denen wir so einen ‘Chrampf’ haben hier. Ich mache mir Sorgen um die Schneise der Zerstörung – oder wie auch immer diese Katastrophe später betitelt wird – welche Covid-19 an diesen Orten hinterlassen wird.
Drittens mache ich mir Sorgen um die Zukunft. Zum einen um die nahe Zukunft: die Gesundheit der 93 jährigen Grossmutter, den womöglich verlorenen Sommer, das verpasste Jahr 2020, den beängstigenden Arbeitsmarkt, den ich Ende Juni als wieder Arbeitssuchende betreten werde. Zum anderen aber vor allem um die ferne Zukunft, um die Zukunft derjenigen, um deren Gesundheitszustand ich mich eben auch gerade jetzt sorge. Was passiert mit den globalen Wirtschaftsbeziehungen nach Covid-19? Mit den Entwicklungsprojekten, von denen viele Menschen (wohl oder übel) abhängig sind? Dem Prinzip des Asyls?
Ich weiss. Wir müssen jetzt zu unseren Nächsten und uns selbst schauen. Ja. Aber wir dürfen auf keinen Fall verpassen auf jene Prinzipien Acht zu geben, derer wir uns dieser Tage gerne brüsten: Nächstenliebe, Solidarität, Gemeinschaftssinn. Wenn wir schon physisch die Grenzen schliessen, um das Virus einzudämmen, dürfen wir diese Prinzipien nicht vergessen. Die humanitäre Tradition der Schweiz muss gelebt werden, um in der Schweiz und ausserhalb besonders gefährdete Menschen zu schützen – seien es ältere Leute, solche mit Vorerkrankungen, oder eben jene, die keine Möglichkeit haben, die lebensschützenden Hygienemassnahmen einzuhalten – wo auch immer sie sich gerade befinden. Ob im Tessin, in der Waadt, in Winterthur, an der griechisch-türkischen Grenze, im Irak.
Die Jahrestagung der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA hätte am vergangenen Freitag in Baden zum Thema ‘Wo Hilfe an Grenzen stösst’ stattgefunden. Covid-19 hat physische Grenzen und Abgrenzung wieder sichtbar gemacht. Lassen wir es nicht zu, dass diese Grenzen unseren Blick auf Menschen versperren, welche nicht die Möglichkeiten und Unterstützung haben, die wir in der Schweiz haben. Lasst uns die freien Abende nicht nur mit Lismen, Netflix und viel Wein verbringen. Lasst uns auch kreativ über die Möglichkeiten nachdenken, die Covid-19 uns gerade aufzwingt. Und lasst uns realisieren, dass die Bewegungsfreiheit, die wir gerade schmerzlich vermissen, auch nach dem Virus wieder nur ein Privileg von wenigen sein wird.
Anja Grob ist Mitgründerin von Operation Libero und war langjähriges Vorstandsmitglied. Heute arbeitet sie als Analystin für eine humanitäre Organisation im Irak.