Zur Rolle der Politik während Corona
Eine Diskussion zwischen Laura und Stefan
Die Zeit der Einigkeit ist vorbei, die Politik ist wieder zurück im Courant normal. Ist das nun gut oder schlecht? Welche Rolle haben politische Akteure in einer Krise? “Wenn man nichts zu melden hat: Klappe halten” oder doch eher “kritisch sein, streiten!”? Zwei Liberos diskutieren.
Corona kam, sah und blieb. Und die politische Schweiz kam zum Stillstand. Ja, sogar die sich sonst zu jedem Hundezaunverbot in Oberbottigen äussernden Parteiexpontentinnen hat Corona zu einer selten dagewesenen Einigkeit bewegt. Wir erinnern uns: Einheitliche Medienmitteilung aller Parteien. Bitte jetzt zuhause bleiben. “Eine*r für alle – alle für eine*n”. Sogar die EVP benutzte Gendersternchen.
“Die politischen Parteien stehen vereint und vorbehaltlos hinter dem Bundesrat” hiess es darin. Der Bundesrat und das Bundesamt für Gesundheit konnten für einmal das Unmögliche geschehen lassen: parteiübergreifendes Vertrauen in unsere Regierung. Und in Daniel Koch, Mr. Corona-Krise, Beherrscher des Konjunktivs.
Dass dies nicht allzu lange dauern wird, war klar. Doch ist das nun gut oder schlecht? Was bedeutet unser Anspruch “staatstragend und staatskritisch zugleich zu sein” in dieser Zeit? Co-Präsidentin Laura Zimmermann und Vorstandsmitglied Stefan Manser-Egli diskutierten dazu.
Laura Zimmermann:
Für kurze Zeit gab es in dieser tiefschürfenden Krise die wunderbare Idylle von schweigenden ParteipolitikerInnen...
Stefan Manser-Egli:
...aber sollte uns dies gerade als Liberale nicht immer auch etwas stutzig machen? Diese absolute Einigkeit, dieses unbedingte Vertrauen in die Regierung?
Laura:
Dieses Vertrauen, dieses Zusammenstehen, gerade zu Beginn dieser Krise war enorm wichtig. Und es sollte uns stutzig machen, wenn es zu lange so ist, ja. Doch man sollte sich auch nicht einfach aus Prinzip zu was äussern müssen und einfach aus Prinzip mal eine andere Meinung vertreten. Wenn es substanziell was Gutes zu sagen gibt, gerne. Aber sonst sollten PolitikerInnen für einmal das tun, was sie sonst (fast) nie tun: Die Klappe halten zu Themen, in denen sie keine ExpertInnen sind.
Stefan:
Ich sehe hier eine heikle Gratwanderung: Der Ruf nach ExpertInnen spricht immer für Technokratie, ob im Ausnahmezustand oder nicht. Aber auch und gerade im Krisenmodus müssen die Konsequenzen und damit auch die politische Verantwortung von allen getragen werden. Darum ist am Ende trotz allem der Demokratie gegenüber der Technokratie den Vorrang zu geben, selbst wenn dies vielleicht zu "schlechteren" Entscheiden führt. Oder anders gefragt: Ist es nicht gerade in Krisen besonders wichtig, dass die politische Debatte öffentlich stattfindet, dass alle politischen Akteure ihren Job machen, gerade weil es schwierige, nicht eindeutige, aber immer politische Entscheide zu fällen gilt?
Laura:
Die Schweiz ist doch auch jetzt keine Technokratie! Aber der Qualität der politischen Debatte in der Schweiz würde mehr ExpertInnenwissen ganz ehrlich gesagt durchaus gut tun. Oder sagen wir es mal so: Es funktioniert in der Schweizer Medienlandschaft leider immer noch sehr gut, dass man lediglich laut und ohne Substanz «der Bundesrat hat alles falsch gemacht» schreien kann, und dafür Gehör erhält. Für mich hatten die ersten Partei-Reaktionen darum ganz neue überparteiliche Qualitäten: die Politikerinnen und Politiker nehmen sich mit ihren eigenen Forderungen und Ideologien mal selbst ein wenig zurück, damit der Krisenmodus funktioniert. Sogar Twitter war für eine kurze Zeit ganz angenehm, wurde mir gesagt.
Stefan:
Das stimmt. Aber sich zurücknehmen, heisst ja nicht zwingend schweigen, sondern kann auch konstruktive, aufrichtige Kritik sein. Mein Punkt ist: Der Krisenmodus darf nicht darin bestehen, den Bundesrat unwidersprochen machen zu lassen. Klar, am Anfang war es wichtig, ein gutes unmittelbares Krisenmanagement zu haben. Aber umso mehr stellt sich die Frage des "normalen" politischen Betriebs und der Entscheidungsfindung, jetzt wo sich die Krise über Monate oder Jahre weiterziehen dürfte. So wichtig die Einigkeit zu Beginn der Krise war, so wichtig scheint mir doch die Auseinandersetzung, der Widerspruch, die Kritik in den gewohnten politischen Formaten für alle weiteren politischen Entscheide, die anstehen. Und auch wenn der Vergleich zum jetzigen Zeitpunkt sicher nicht angebracht ist, so graut mir etwas vor einem bundesrätlichen Vollmachtenregime, wie es nach den Weltkriegen bis 1952 herrschte und per Volksinitiative (!) beendet werden musste.
Laura:
Es ist klar und legitim, ja auch wichtig, dass sich die Parteien nach und nach auch mit Kritik wieder zu Wort melden. Doch mit welchem Programm, mit welcher Zielsetzung? Ist es aufgrund einer sich langsam breitmachenden Ungeduld? Was gewissermassen verständlich wäre. Oder doch einfach fehlende Aufmerksamkeit? Man konnte ja jetzt nicht mehr mit Masken in den Nationalratssaal... Oder noch viel schlimmer: Ist es der Glaube, es besser zu wissen und die ernsthafte Überzeugung, dass parteipolitische Vorschläge zu Exit-Strategien jetzt gefragt sind?
Stefan:
...oder eben doch ein politisches Verantwortungsbewusstsein als VolksvertreterInnen, die Demokratie auch und gerade in der Krise nicht zur Technokratie verkommen zu lassen? Dass nach dem akuten Krisenmodus nun doch wieder die üblichen demokratischen, politischen Abläufe zum Tragen kommen sollten?
Laura:
Ja, das wäre the right way to go. Schön, wenn es so wäre! Meine Beobachtung der letzten Wochen ergibt aber ein anderes Bild.
Stefan:
Welches?
Laura:
Die Parteikakofonie ist zurück. Und mit ihr die Diskussionen, wie lange man nun noch zu Hause bleiben soll. Die sogenannten Krisenexpertinnen und -experten der FDP und SVP forderten die Lockerung der Massnahmen per 19. April. Die SVP zusätzlich eine «Maskentragpflicht» - schon ein wenig lustig von einer Partei, welche sich sonst gegen die Verhüllung des Gesichts stark macht. Und während Rechts ungeduldig, aber nicht ansatzweise überzeugend vorprescht, nutzt Links die Krise, um auf bekannte Forderungen aufmerksam zu machen. Und die “bürgerliche Mitte” ist, natürlich, “wirtschaftsfreundlich.” Dieselben ideologischen Headlines, dieselben Partikularinteressen, dieselbe Selbst-Profilierung: Politics is back in town! Die Formel “Man nehme eine Aktualität, presse sie durch die jeweilige Parteischablone und heraus kommt eine Headline in der Sonntagspresse”, funktioniert wieder. Und darin liegt der Kern meiner Kritik: Die Qualität der Vorschläge und der Debatte ist mies.
Stefan:
Stimmt, völlig einverstanden, was die Profilierungssucht und den parteipolitischen Opportunismus betrifft. Diese Kritik ist berechtigt, aber eigentlich ganz unabhängig von den Fragen Technokratie vs. Demokratie oder Krisenmodus vs. Normalität?
Laura:
Eigentlich schon. Aber in der jetzigen Situation erwarte ich schon noch eine Spur mehr Verantwortungsbewusstsein über den eigenen Parteirand und die eigenen Ideologien hinaus! Da fand ich die CVP und die Kommunikation ihrer Parteispitze vor Ostern wirklich gut, als sie sagte, es sei nicht an den Parteien zu entscheiden, wie es weitergeht, sondern an der Exekutive. Die CVP traf damit den Nagel auf den Kopf. So seh ich das zumindest. Als politischer Akteur in der aktuellen Krise im Schweizer Politsystem Verantwortung zu übernehmen, bedeutet für mich, die bundesrätliche Strategie mitzutragen.
Stefan:
Das ist mir zu wenig staatskritisch - wie die CVP halt ;-). Nein im Ernst, zumindest wäre dieser Vertrauensvorschuss an die Bedingung zu knüpfen, so bald wie möglich zu den üblichen politischen Entscheidungsprozessen zurückzukehren. Als Liberale sollten wir gegenüber jeder Konzentration von Macht argwöhnisch sein und so ein Notstandsregime bedeutet halt immer per Definition viel Macht an einem Ort.
Laura:
Als Liberale sehe ich meine Rolle darin, staatstragend und staatskritisch zugleich zu sein. Hier bin ich jedoch der festen Überzeugung, dass die unsäglich schwierigen Abwägungen in einem Notstand von der Exekutive getroffen werden müssen. Und damit insbesondere der Zeitpunkt und die Art von Lockerungsmassnahmen. Das ist ein so schmaler Grat. Angela Merkel hat dies kürzlich sehr überzeugend (und leicht technokratisch ;-)) dargelegt. Zu einem gewissen Grad geht es eben genau um diese Berechnungen, die man verstehen muss (ich tue das nicht), um sinnvolle Lockerungen zu beschliessen.
Stefan:
Aber auch diese Frage und diese Berechnungen sind Ausdruck von gegensätzlichen politischen Haltungen, Werten und Interessen, von Lobbies und Machtverhältnissen. Es gibt keine neutralen, technokratischen Lösungen für diese inhärent politischen Fragen, weshalb sie auch politisch entschieden gehören. Dazu braucht es auch die Politik und die öffentliche Debatte, vor allem wenn sich diese Massnahmen noch über Wochen, Monate oder gar Jahre hinziehen.
Laura:
Ich bin einverstanden damit, dass es keine neutralen technokratischen Lösungen gibt. Alles ist politisch. Das sieht man auch in der Politisierung gewisser Studien zu Corona. Ich gebe hier lediglich ein Votum für ein Grundvertrauen in die Exekutive in diesem Krisenmodus: Wir haben eine Konkordanzexekutive. Die politischen Diskussionen und Kämpfe finden schon in den Bundesratssitzungen statt. Raus kommen dürften dabei einigermassen parteiübergreifend konsolidierte Massnahmen. Was die institutionelle Politik dazu beitragen kann, sind meiner Meinung nach nicht sechs Exit-Strategien von sechs Parteien. Sondern konstruktive Vorschläge, wie man im Rahmen der bundesrätlichen Exit-Strategie möglichst gute Massnahmen umsetzen kann. Aber klar: Es ist wichtig und legitim, dass man sich als politischer Akteur oder als Partei nach der ersten Schockstarre auch zu den Dimensionen dieser Krise äussert und dass in einer Demokratie die Legislative ihre Rolle im Sinne der Gewaltenteilung nach und nach wieder einfordert.
Stefan:
Genau das ist mein Punkt. Denn das ist auch ihr Job, insbesondere als gewählte Vertreterinnen und Vertreter. Es gilt aber auch für die öffentliche Debatte, für die Medien, für die Bärfusse, Vasellas, Agambens und wer sonst noch alles zu Corona gefragt wird.
Laura:
Yes, natürlich! Dies steht ausser Frage, diese Debatten braucht es. Wichtige Fragen stellen sich (und werden sich stellen), wo eine kritische Auseinandersetzung gefordert ist: medizinischer Fachstreit über die richtige Bekämpfung von Covid-19? Unbedingt! Diskussionen zu Grundrechten, zu Datenschutz, zu digitaler Demokratie? Ja, bitte! Verfassungrechtliche Betrachtungen zum Notrecht? Her damit. Auf offene Punkte, blinde Flecken und vulnerable Gruppen hinweisen? Hoffentlich. Massnahmen auf ihre Wirksamkeit hin kritisch betrachten? Ja.
Stefan:
...und dazu gehört eben auch die Frage über die Lockerung (oder Verlängerung) des Lockdowns…
Laura:
Ja, aber dann müsste es fundierter sein als einfach Opposition gegen den Bundesrat zwecks plumper Profilierung. Ich finde, man sollte dabei Eins tun und etwas Anderes lassen: Man sollte stets verantwortungsbewusst handeln und es deshalb vermeiden, Zweifel daran zu säen, ob denn nun beispielsweise dieses Zuhausebleiben wirklich nötig sei.
Stefan:
Hmm, das mit dem Zuhausebleiben und wie lange, das ist meines Ermessens aber schon eine solche Frage, über die man öffentlich und politisch diskutieren soll?
Laura:
Die Debatte ist das eine, Forderungen einfach zwecks Profilierung und Aufmerksamkeit das andere. Ich spreche von jenen, die per se Zweifel säen. Die mit ihren (utopischen) Forderungen ungeduldig vorpreschen. Die die Handlungs- und Planungsfähigkeit des Bundesrates und des BAG langsam und subtil in Frage stellen und unterminieren. Die Zweifel an den Expertinnen und Experten äussern. Die implizieren, dass der Bundesrat keine Exit-Strategie hat - was glaubt ihr, macht dieser 24 Stunden am Tag? Und die es am Ende gar - natürlich - besser gewusst haben. Gezielt Zweifel und Missgunst zu säen, um sich politisch zu profilieren, erachte ich nicht nur als moralisch verwerflich, sondern auch als potenziell gefährlich für eine Gesellschaft, von der aktuell grad sehr viel abverlangt wird. Und ich mache mir Sorgen, dass diese Saat aufgehen könnte. Dass dahinter vielleicht sogar Elemente einer Strategie stecken, die wir nur allzu gut kennen und die letzten sechs Jahre bekämpft haben.
Stefan:
Ich sehe deinen Punkt und auch die Gefahr dieser destruktiven Tendenzen. Aber dann bist du einverstanden damit, dass konstruktive Kritik und Zweifel an die Adresse des Bundesrates, des BAG und der ExpertInnen immer möglich sein soll und muss? Dass wir politisch darüber streiten, welche Massnahmen wann ergriffen und wann gelockert werden sollen?
Laura:
Unbedingt! Aber eines bräuchte man da meines Erachtens nicht zwingend: besserwissende PolitikerInnen mit populistischen Forderungen. Auf der Titelseite der Sonntagspresse. Drei Sonntage nacheinander. Und ja, das ist auch eine Kritik an der Sonntagszeitung, die das immer wieder abdruckt und über jedes Stöckchen springt, das die Familie Blocher ihr hinhält.
Stefan:
Einverstanden! Dann können wir uns darauf einigen: Wir brauchen auch jetzt und gerade jetzt, in der Krise, eine kritische Legislative und Politikerinnen und Politiker mit einem höheren Verantwortungsbewusstsein als vielleicht zu entspannteren Zeiten. In diesen können sie dann auch wieder das populistische Burkaverbot aus der Schublade holen.
Laura:
That’s it. Dies war übrigens auch der Grund, weshalb ich lange zögerte, den Blog-Entwurf zu schreiben, woraus nun diese Diskussion entstand: Weil ich aus der Krise kein politisches Kapital schlagen will und nicht sicher war, ob ich es gerade mit einem solchen Beitrag tue. Aber um den Kreis zu schliessen: Als politische Akteurin, als Verfechterin einer liberalen Demokratie fand ich es dennoch wichtig, mich zu äussern und so Verantwortung zu übernehmen. Es ist dieses Verantwortungsgefühl, welches ich mir in diesen Zeiten von der Parteipolitik erwünsche.