7 Argumente gegen das Verhüllungsverbot
Überflüssig, wirkungslos, kontraproduktiv und unehrlich
Der Gesichtsschleier sei ein Symbol für die Unterdrückung muslimischer Frauen, sagen die Initianten. Das stimmt so nicht. Vor allem aber lenkt es davon ab, wie wir als Bürger*innen einer globalisierten Exportnation eh schon an der Unterdrückung von Frauen- und Menschenrechten teilhaben. Und wie wir uns viel effektiver dagegen wehren könnten.
Keine Unterdrückung von Frauen und Mädchen. Dass dies ein Kernanliegen demokratischer Staaten sein muss, da sind sich wohl alle einig. Allerdings lässt sich ein solches Ziel nicht mit dem Verbot eines Stück Stoffs erreichen. Die Welt ist viel komplexer. Wer sich in einem hyper-globalisierten Land wie der Schweiz für mehr Rechte von muslimischen Mädchen, Frauen und Männern engagieren will, muss als erstes erkennen, dass er oder sie bereits Komplize oder Komplizin muslimischer Unrechtsregime ist. Sobald wir verstehen, warum das so ist, sollten wir als Bürger*innen darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaftsbeziehungen mit Unrechtsregimen mit unseren demokratischen Idealen in Einklang bringen können. Weshalb ist dies so? Hier das Argument in 7 Punkten:
1. Wie bei jedem Symbol steckt die Bedeutung der Niqab nicht in der Niqab selbst. Bedeutung erlangt der Stoff erst durch die Absicht ihrer Trägerinnen und den Kontext, in dem sie getragen wird. Wer in einer Bar zwei Finger in die Höhe streckt, bestellt – je nach Kontext und Absicht – zwei Biere oder (v.a. in Grossbritannien) beleidigt den Barkeeper. So ist es auch mit der Verhüllung. Sie kann ein Symbol für die Unterdrückung der Frau sein, sie muss es aber nicht: Absicht & Kontext! Im mexikanischen Chiapas etwa ist die Verhüllung ein Symbol für den Freiheitskampf indigener Frauen und Männer.
2. Die Niqab in der Schweiz ist sicher kein Symbol für staatliche Unterdrückung (Kontext). Die genauen Absichten der 30-40 Niqabträgerinnen in der Schweiz kennen wir nicht. Laut neuesten Studien handelt es sich vor allem um Konvertitinnen. Gut möglich, dass es für sie nur eine Lebensphase ist – ähnlich wie für viele von uns früher der Punk- oder Heavymetal-Look. Eine jugendliche Provokation. Fast niemand über 30 hält daran fest.
3. Auch wenn die Niqab in Europa kein Symbol staatlicher Unterdrückung sein kann (Kontext), kann sie natürlich ein Symbol für Unterdrückungen in der Familie sein. Hier gilt freilich wiederum: Bei den 30-40 Niqabträgerinnen in der Schweiz scheint dies nicht der Fall zu sein. Wie wir aus der Forschung (z.B. aus Frankreich und Grossbritannien) wissen, sind die allermeisten dieser jungen Muslim*innen in Europa geboren und wuchsen in wenig religiösen bis säkularen Familien auf. Weder deren Mütter noch Grossmütter trugen den Niqab.
4. Selbst dort, wo Eltern ihre Töchter oder Ehemänner ihre Frauen zwingen, sich zu verhüllen, ist ein (neues) staatliches Verbot überflüssig und wirkungslos.
Überflüssig: Kinder oder Ehefrauen emotional, seelisch, oder körperlich zu schädigen, ist selbstverständlich schon lange verboten. Wer seine Tochter oder seine Frau zwingt, sich zu verhüllen, ist ein Fall für die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB).
Wirkungslos: Wie der renommierte Islamwissenschaftler Reinhald Schulze unlängst im Journal 21 gezeigt hat, gerät der Niqab selbst im Nahen Osten aus der Mode. Die Unterdrückung von Frauen erfolgt mit ganz anderen Methoden und muss daher auch anders bekämpft werden. Das gilt, wie uns etwa die Berner Geschlechterforscherin Meral Kaya anlässlich des Frauenstreiks in Erinnerung gerufen hat, auch in der Schweiz: Die Benachteiligung von Mädchen und Frauen im Alltag, in der in der Wirtschaft, Politik und Sprache ist kein muslimisches Problem. Es ist ein gesamtschweizerisches Problem. Wer sich dagegen einsetzen will: toll. Die Instrumente dazu sind altbekannt: mehr Gleichstellung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, mehr rechtlicher Schutz gegen häusliche Gewalt, mehr männliche Zivilcourage gegen Sexismus im Ausgang, im "locker room talk", am Arbeitsplatz, die Liste könnte nach Belieben verlängert werden.
5. Anders als in der Schweiz und in Europa gibt es durchaus Kontexte, wo Niqabs und Verhüllungsvorschriften Ausdruck von staatlichen Unterdrückungen von Frauen sind. Diese Kontexte finden wir im Nahen Osten und zunehmend auch in der Türkei. Selbstverständlich sollten wir uns dagegen wehren! Ein Burkaverbot in der Schweiz ist aber, um es mit Klartext zu sagen, im besten Fall lächerlich, im schlimmsten Fall eine Ver**schung der Stimmbürger*innen. Denn ein Verhüllungsverbot in der Schweiz ändert Nullkommanix an der staatlichen Repression in Saudi-Arabien.
Was diese staatliche Repression allerdings unterstützt und am Leben erhält, sind unsere Wirtschaftsbeziehungen zu diesen Ländern.
Wer also in der Schweiz etwas Effektives für die Freiheit muslimischer Frauen tun möchte, müsste von seinem und ihrem Privileg Gebrauch machen, in einem freien und demokratischen Land zu leben. Als Bürger*innen müssen wir uns ehrlich und selbstkritisch fragen: Wollen wir wirklich eine Aussenhandels-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, die nur wenig für Frauen- und Menschenrechte, dafür aber umso mehr dafür tut, unsere Grossbanken, unsere Export- und Waffenindustrien als loyale Parter von Unrechtsregimen zu postionieren, damit diese – und indirekt wir alle – damit Geld verdienen können? Wollen wir das wirklich?
6. Klar, darauf zu verzichten, mit Unrechtsregimen Geschäfte zu machen, kostet was. Aber so ist es nunmal mit der Freiheit. So weit ich die Geschichte der Freiheit überblicke, war sie noch nie gratis zu haben. Und schon gar nie mit Vorschriften und Verboten für Minderheiten.
7. Wie Reinhard Schulze im oben erwähnten Artikel auch ausführt, ist ein Verhüllungsverbot mit grösster Wahrscheinlichkeit kontraproduktiv. Das hat u.a. damit zu tun, dass die Bedeutung von Symbolen, wie etwa der Verhüllung, immer mit dem Kontext zu tun haben. Wenn wir Burka und Niqab verbieten, erschaffen wir einen neuen Kontext. Einen Niqab zu tragen, in einem Land, das ihn verbietet, kann dann auch ein Akt der Provokation, der Rebellion oder des Kampfes für das Recht und die Freiheit sein, selber zu entscheiden, wie man sich kleidet. Erfahrungen aus Frankreich und anderen Ländern mit Verboten deuten darauf hin, dass immer mehr Frauen Verhüllungen genau aus diesen Gründen tragen: als Kritik am Staat. Das führt nicht nur dazu, dass wir dann mehr anstatt weniger Niqabträgerinnen haben. Es ist natürlich auch heikel, weil radikale Islamisten solche Akte der Rebellion selber zu instrumentalisieren und zu befeuern suchen. Für sie ist das Verbot ein weiterer Beweis für die Unterdrückung des Islams in Europa und sie können damit weitere junge Frauen ansprechen. Ein Verhüllungsverbot würde damit, so Schulze, radikalen Islamisten in die Hände spielen.
Kurzum: Was ein Stück Stoff bedeutet, können wir nicht per Gesetz beschliessen. Wir können nur den Kontext beeinflussen. In der Schweiz wäre ein Verbot im besten Fall wirkungslos und überflüssig. Im schlimmsten Fall wäre es kontraproduktiv. So oder so wäre es unehrlich: Denn solange wir islamische Unrechtregime oder solche, die sich zunehmend radikalisieren, ökonomisch unterstützen und selber damit Geld verdienen, lügen wir uns selber in die Tasche, wenn wir glauben, dass wir mit einem Burkaverbot irgendwas für Frauen- und Menschenrechte tun.
Bernhard C. Schär ist Historiker an der ETH Zürich und an der Fernuniversität Schweiz.