Nicht nur gut gemeint sondern auch gut durchdacht
Die Konzernverantwortungsinitiative kontrolliert die Risiken internationaler Wertschöpfungsketten auf elegante Weise: Sie setzt die Anreize für die Beteiligten so, dass ihr Informationsvorsprung von der Allgemeinheit genutzt werden kann. Und sie kann den Geschädigten eine Stimme geben.
Bei einem ihrer zentralen Argumente verfallen die Gegner der Konzernverantwortungsinitiative meist in den gönnerhaften Tonfall, mit dem angebliche Realisten die angeblichen Träumer und Gutmenschen abzukanzeln gewohnt sind. Sie sagen dann, die Initiative sei zwar gut gemeint. Aber gut gemeint sei das Gegenteil von gut, die Initiative sei paternalistisch und werde unvorhergesehene Effekte haben, die für die Menschen, denen die Initiative helfen wolle, kontraproduktiv seien. Der Gegenvorschlag hingegen, der sei nicht nur gut gemeint, sondern bringe zum Herz auch noch den Verstand und werde darum dann so richtig gut funktionieren.
Zeit also, dieser Frage etwas auf den Grund zu gehen, und die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Initiative und Gegenvorschlag und ihre Chancen auf Wirksamkeit zu untersuchen.
Eine horizontale Initiative und ein vertikaler Gegenvorschlag
Eine einfache Art, diese Untersuchung zu organisieren, ist eine Unterteilung in Mittel und Zweck. Denn es ist im Mittel und nicht im Zweck, in dem sich die Initiative und der Gegenvorschlag unterscheiden. Den Zweck – das beteuern der Bundesrat und die übrigen Gegner der Initiative – den teilen sie ebenfalls.
Der Zweck der Initiative (und des Gegenvorschlags) ist es, die Grenzen der Freiheit des einen zum Schutz der Freiheit des anderen durchzusetzen. Wobei diese Grenze durch die internationale Gemeinschaft umrissen sind. Es sind internationale Standards bezüglich Menschenrechte und Umweltschutz, die durchgesetzt werden sollen.
Das Mittel der Initiative ist – nebst einer Sorgfaltsprüfungspflicht – in erster Linie, dass die Schweiz ihr Gerichtssystem für haftpflichtrechtliche Schadensersatzklagen zur Verfügung stellt. Sie schafft also einen neuen Gerichtsstand, ein neues Forum, in dem Kläger, die im Ausland durch ein von der Schweiz aus kontrolliertes Unternehmen geschädigt worden sind, alternativ zum Forum vor Ort klagen können.
Das Mittel des Gegenvorschlages besteht in erster Linie aus Berichterstattungspflichten. Die Sorgfaltspflichten, die er beinhaltet, sind viel eingeschränktere (nur für die Risikobereiche Kinderarbeit und Konfliktmineralien). Ausserdem unterscheidet er sich vor allem dadurch von der Initiative, dass er keine Möglichkeit für haftpflichtrechtliche Kompensation schafft: Geschädigte erhalten keinen neuen Zugang zum Recht, ihr Schaden bleibt unersetzt. Stattdessen setzt er auf das Mittel neuer Strafbestimmungen für die Verantwortlichen in einem Unternehmen, die ihrer (neu geschaffenen) Berichterstattungspflicht nicht nachkommen. Diese sollen eine Busse zahlen, also einen Ausgleich, der an den Staat geht und vom Staat durchgesetzt wird. Das ist der Hauptunterschied zwischen dem Gegenvorschlag und der lnitiative: Ein vertikaler Mechanismus – eine Kompensation an den Staat, durchgesetzt durch den Staat – beim Gegenvorschlag. Ein horizontaler Mechanismus – eine Kompensation an Geschädigte, geltend gemacht und durchgesetzt von diesen und ermöglicht durch ein staatliches, verhältnismässig gut funktionierendes Forum – bei der Initiative.
Nebst der Gerechtigkeit ist auch Effizienz ein Ziel
Der Zweck von Initiative und (angeblich auch) des Gegenvorschlags – die Grenzen der Freiheit des einen zum Schutze der Freiheit der anderen durchzusetzen – kann weiter unterteilt werden in ein Gerechtigkeitsziel und – vielleicht weniger offensichtlich – ein Effizienzziel. Das Gerechtigkeitsziel verfolgt den Schutz der Würde, der Freiheit und der Gleichheit von Menschen, den gleichberechtigten Schutz ihrer Gesundheit, ihres Lebens und ihrer ökologischen Umwelt.
Effizienz hingegen bedeutet hier, dass wirtschaftliche Tätigkeit mit möglichst wenig externen Effekten verbunden ist, besonders mit möglichst wenig negativen externen Effekten, also mit einem Verhalten von Unternehmen, das Dritten Kosten verursacht, für die das Unternehmen nicht aufkommen muss. Insbesondere sollen jene negativen externen Effekte verhindert werden, die durch internationale Standards verboten sind. Es ist also ein politisch verhandelter und konkretisierter aber auch ein globaler Effizienzbegriff, der die Effekte von Schweizer Unternehmen irgendwo auf dem Globus berücksichtigt, der durchgesetzt werden soll.
Ob dieser Effizienzbegriff durchgesetzt werden kann, betrifft nicht nur die Geschädigten und die Schädiger, sondern uns alle. Aus der Perspektive einzelner Wirtschaftsteilnehmer können negative externe Effekte Sinn machen. Aus der Sicht der Gesamtgesellschaft muss immer jemand sie tragen.
Es geht also um gesamtgesellschaftliche Effizienz in einer globalen Gesellschaft. Es geht darum zu verhindern, dass jene Unternehmen, die negative externe Effekte verursachen, dadurch einen Vorteil haben im Wettbewerb mit Unternehmen, die Kosten auf sich nehmen, um solche externen Effekte zu verhindern. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht geht es darum dass alle (die ihren Sitz in der Schweiz haben) nach den gleichen Spielregeln spielen müssen. Die Gesellschaft als Ganzes hat ein Interesse daran, dass alle Wirtschaftsteilnehmer unter Druck stehen, negative externe Effekte zu internalisieren. Der etwas technische Begriff der Internalisierung (um den es im Folgenden geht) bedeutet, dass wirtschaftende Akteure die externen Effekte ihres Verhaltens so in ihre Kosten-Nutzen-Rechnung mit einpreisen, als müssten sie diese selber tragen.
In einem ersten Schritt ist es aus Sicht der Effizienz einmal egal, auf welche Weise sie die negativen Effekte selber tragen: Indem sie Kosten eingehen, um Schäden zu verhindern oder um Opfer zu entschädigen oder indem sie dem Staat eine Busse abdrücken, die dem Schaden entspricht, dividiert durch das Risiko, erwischt zu werden. Sie führen grundsätzlich alle dazu, dass ein Unternehmen negative externe Effekte in die eigene Kosten-Nutzen-Struktur übernehmen.
Warum Schäden nicht einfach liegen lassen?
Relativ leicht zu begründen ist unter Effizienzgesichtspunkten auch, warum der Schaden nicht einfach da liegen bleiben soll, wo er anfällt, was die einfachste Möglichkeit wäre. Schliesslich ist die Überbindung von Schäden teuer und daher weder bei allen negativen externen Effekten möglich, noch (unter Effizienzgesichtspunkten) wünschbar. Aber wenn es um die Verletzung von Menschenrechts- und Umweltstandards geht, haben die Unternehmen selber (gegenüber dem Staat oder gegenüber potentiell Geschädigten) in der Regel einen soliden Informationsvorsprung. Sie wissen mehr, als alle anderen über ihre Praktiken und die Schäden, die von diesen Praktiken ausgehen. Sie sind daher die plausibelsten Kandidaten, Schäden vermeiden zu können. Sie sind – ökonomisch gesprochen – die günstigsten Schadensvermeider, weshalb es wünschbar ist, dass sie für die Schäden geradestehen müssen und somit einen Anreiz erhalten, die Schäden zu vermeiden. Aber geradestehen könnten sie ja auch gegenüber dem Staat (mit einer Busse), nicht nur gegenüber den Geschädigten (mit Schadensersatz).
Es sind die beiden Kategorien “Informationen” und “Anreize”, die zeigen, warum auch unter Effizienzgesichtspunkten die horizontale Lösung der Initiative der vertikalen Lösung des Gegenvorschlages überlegen ist.
Informationen und Anreize als entscheidende Kriterien
Die Internalisierung von negativen externen Effekten ist zunächst einmal ein Informationsproblem. Man kann nur jene Effekte verhindern oder kompensieren, von denen man weiss. Die Frage, was die negativen externen Effekte globaler Wertschöpfungsketten sind, und wer diese Effekte in welchem Umfang trägt, ist extrem komplex, auch wenn manche Schäden recht offensichtlich sein mögen. Informationen zu ihrem Ausmass und ihren Ursachen sind oft sehr technisch, liegen in den entlegensten Winkeln der Welt, sind hinter den hohen Zäunen und den Firewalls grosser Unternehmen sehr gut abgeschirmt oder liegen umgekehrt oft bei prekarisierten Menschen, die selber keine Stimme haben.
Eine gut funktionierende Lösung wird also darauf basieren müssen, dass sie die Informationen jener Akteure nutzbar macht, die einen Informationsvorsprung haben. Das sind, wie gesehen, zunächst einmal die potentiellen Schädiger, die Unternehmen. Sie haben einen Informationsvorsprung, was ihre Praktiken, ihre Produktionsverfahren, ihre kontrollierten Unternehmen, Lieferanten und Kunden etc. betrifft.
Die Anreizstruktur der Geschädigten
Umgekehrt verfügen aber auch Geschädigte – verglichen mit unbeteiligten Dritten und insbesondere verglichen mit dem Staat – über einen Informationsvorsprung. Sie wissen von neu aufgetretenen gesundheitlichen Beschwerden, von einer Veränderung ihrer ökologischen Umwelt, von einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Nur: Diese Informationen zu dokumentieren, sie so aufzuarbeiten, dass sie für eine Internalisierung externer Effekte dienen, ist aufwändig. Man braucht dazu Ärztinnen, Ökologen, Ingenieure, und irgendwann auch Anwältinnen und Anwälte. Diesen Aufwand muss jemand stemmen. Hier kommen die Anreize ins Spiel. Wenn lediglich ein moralischer Sieg drin liegt, die Befriedigung, dass ein schädigendes Unternehmen zu einer Busse verurteilt worden ist, dann gehen die Möglichkeiten rasch aus, diese Informationen aufzubereiten, und sie so der Gesellschaft als Ganzes zur Verfügung zu stellen. Dasselbe gilt, wenn lediglich die Möglichkeit besteht, ein Haftpflichtprozess in einem korrupten Gerichtssystem durchzuführen, von dem klar ist, dass es nie einen unabhängigen Entscheid fällen oder durchsetzen wird,
Umgekehrt ist es auch für Unternehmen kostspielig, Informationen aufzuarbeiten (selbst wenn sie das günstiger können als sonst jemand). Auch Unternehmen haben nur dann einen griffigen Anreiz, diesen Aufwand zu stemmen, wenn sie mit dem Risiko konfrontiert sind, vor einem Gericht zeigen zu müssen, dass sie keine Verantwortung für einen Schaden tragen. Wenn sie lediglich zeigen müssen, dass sie genug Berichterstattungspflicht wahrgenommen haben, um einer Busse zu entgehen, haben sie einen sehr viel schwächeren Anreiz, Informationen zu sammeln und zu dokumentieren. Sie haben im Gegenteil vielleicht sogar einen Anreiz, ihre Risiken nicht offenzulegen, weil der Staat angesichts des Aufwands keine Untersuchung anstreben wird.
Staat als Akteur mit unklarer Anreizstruktur
Die Anreize des Staates schliesslich, Informationen zu beschaffen oder Informationen zu überprüfen, die ihm von möglichen Geschädigten oder möglichen Schädigern zur Verfügung gestellt werden (was auch für den Staat aufwändig und teuer ist), sind diffus. Unternehmen leisten schliesslich einen bedeutenden Beitrag an das Steueraufkommen des Staates. Warum würde man da den enormen Aufwand eingehen, Informationen zu überprüfen oder zu beschaffen, deren Bekanntwerden das Unternehmen vergraulen könnten? In dem Dreieck aus Schädiger, Geschädigten und Staat hat der Staat also nicht nur die schlechtesten Informationen, sondern auch die schwächsten Anreize, diese aufzuarbeiten. Es ist damit der am schlechtesten platzierte Akteur, den der Gegenvorschlag zum zentralen Akteur macht. Das ist sowohl unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit als auch unter dem Gesichtspunkt der Effizienz eine unelegante Lösung.
Nebenbei ist es auch eine sehr staatsgläubige Lösung. Sie hält den Staat für so leistungsfähig, dass er seinen Informationsnachteil wettmachen – und für so edel in der Gesinnung, dass er seinen Mangel an Anreizen wettmachen könne. Oder es ist eine Lösung, welche das Problem der externalisierten Kosten bewusst nicht angehen will, weil man einkalkuliert, dass der Staat in dieser Frage nicht leistungsfähig und Willens sein wird.
Eine wichtige Nebenrolle
Die horizontale Lösung hingegen weist dem Staat zwar eine wichtige, aber dennoch eine Nebenrolle zu. Er soll nur (aber immerhin) ein gut funktionierendes Forum zur Verfügung stellen, in dem Kläger und Beklagte Informationen zusammentragen, in dem diesen Informationen ein offenes Ohr und ein kritisches Auge gewährt wird, und in dem das Machtgefälle zwischen den Parteien möglichst ausgeglichen werden kann. Er soll nicht an der Stelle der Geschädigten deren künftigen Interessen vertreten, sondern ihnen ein Forum schaffen, in dem sie für sich selber sprechen können.
Hier treffen sich der Gerechtigkeits- und der Effizienzgedanke: es soll ein Raum geschaffen werden, in dem Menschen für sich selber sprechen können. Für die Effizienz ist ein Forum nötig, das die Informationen derjenigen bündeln kann, die einen Informationsvorsprung haben, und das der jeweiligen Gegenseite einen Anreiz schafft, ihre Haltung so gut als möglich mit Informationen zu belegen.
Nothing about us, without us!
Für die Gerechtigkeit ist nötig, dass die Geschädigten eine Stimme erhalten und nicht auf die väterliche Fürsorge eines fremden Staates angewiesen sind, dem die Schädiger ihre Steuern zahlen. Im Gegensatz zur vertikalen Lösung des Gegenvorschlages erfüllt die horizontale Lösung der Initiative damit das Kernelement emanzipatorischer Politik: “Nothing about us, without us”; nichts soll über uns bestimmt werden, ohne dass wir für uns selber sprechen dürfen. Für diese Möglichkeit, für sich selber das Wort zu ergreifen, würde die Initiative die Schweizer Gerichte als relativ gut funktionierende Foren zur Verfügung stellen.
Ein institutioneller Bypass
Es stimmt natürlich, dass dieser Raum, dieses Forum in einer idealen Welt an dem Ort zur Verfügung stehen würde, an dem sich der Schaden zugetragen hat. Aber eine gut funktionierende Rechtspflege hängt von einem gut funktionierenden politischen System, einem gut funktionierenden Steuersystem und einem gut funktionierenden Bildungssystem ab, und ist daher enorm schwierig und langwierig einzurichten. Besonders dort, wo jahrzehntelanger Kolonialismus die vorbestehenden Institutionen vor Ort bewusst auseinandergenommen hat. Wer heute geschädigt ist, kann nicht warten, bis ein solches System entstanden ist. Ein Forum im Sitzstaat des Unternehmens, an dem Ort, den sich das Unternehmen wegen der aus seiner Sicht dort gut funktionierenden Institutionen ausgesucht hat, dürfte in dieser Situation eine rasch wirkende Abhilfe sein - ein institutioneller Bypass. Er löst nicht das grundlegende Problem dysfunktionaler Institutionen vor Ort, aber er erlaubt es, dieses Problem vorläufig zu umfahren, solange bis es weniger akut ist. Und er verhindert unterdessen in keiner Weise, dass an der Lösung des Problems weiter gearbeitet wird.
Die Kategorien “Informationen” und “Anreize” sprechen also deutlich dafür, dass die horizontale Variante der Initiative effizienter und emanzipatorischer ist, als die vertikale Variante des Gegenvorschlags.
Noch ein letzter Punkt kommt hinzu, der der Initiative in der Kategorie “Gerechtigkeit” noch einmal einen Vorsprung gegenüber dem Gegenvorschlag einräumt:
Nur das horizontale System gleicht aus
Nur das horizontale, privatrechtliche System kompensiert auch die Geschädigten, gleicht den Schaden derer also tatsächlich aus, die ihn erlitten haben, gibt den Opfern von Umweltverschmutzung und Menschenrechtsverletzungen (wenigsten in Geld) wieder, was ihnen zu unrecht genommen wurde. Der Gegenvorschlag internalisiert zwar, aber er entschädigt nicht. Im besten aller denkbaren Szenarien hätte er eine Wirkung zu Gunsten künftiger Geschädigter, weil Unternehmen aus Angst vor einer Busse ihr Verhalten ändern würden. Aber bereits Geschädigte blieben auf ihrem Schaden sitzen. Eine eigene aktive Rolle hätten Geschädigte in der vertikalen Variante nicht. Sie müssten darauf hoffen, dass eine Behörde in der Schweiz Energie und Kompetenz genug hat, ihre künftigen Interessen indirekt durchzusetzen.
Am Ende ist es daher die Initiative, die Herz und Verstand zusammen bringt, die gerechter und effizienter ist als der status quo und als der Gegenvorschlag. Sie erreicht das, indem sie nicht an Wunder glaubt, im Gegensatz zum Gegenvorschlag weder die Edelmütigkeit noch den Antrieb oder das Wissen von Behörden oder von Unternehmen oder von Klägern überschätzt. Stattdessen nützt sie deren jeweiligen Eigeninteresse, um das Interesse der Allgemeinheit voran zu bringen.
Liberale Staatskunst eben.