Schlegel empfiehlt: Unsere Lesetipps für freie Stunden
“Home Office”-Edition
Ist dir gerade langweilig? Kein Bock mehr auf Netflix? Und für den Apéro ist es noch zu früh? Wir liefern dir geistige Lese-Nahrung – und haben dafür ein paar Lesetipps von unserem Vorstandsmitglied Stefan Schlegel ausgegraben.
“Schlegel empfiehlt” – unter diesem Titel liefert Vorstandsmitglied Stefan Schlegel normalerweise in unseren internen Updates Lesehinweise: Alle zwei Wochen, seit zwei Jahren, pünktlich, souverän, spannend alleweil. Denn Stefan liest viel und weiss viel (wobei letzteres wohl auch mit ersterem zusammenhängt).
Während zweier Jahre haben sich somit viele Links auf viele spannende Bücher und Artikel angesammelt - nun öffnen wir die Archive und sammeln für euch hier, sozusagen als “Home Office Special Edition”, ein paar Lesetipps für freie Stunden. P.S: Den Apéro könnt ihr dann später trinken. Oder dazu.
Die neuesten zuerst: ein paar horizonterweiternde Beiträge zu und während Corona
„Some thoughts on the common Toad“
Weil uns die Coronakrise mitten im Frühling erwischt, hier ein Text über den Frühling. Ein Text, der von allen Texten der Welt vielleicht mein Lieblingstext ist: „Some thoughts on the common Toad“, von George Orwell. Von der Beschreibung der Freude über das Wiederauftauchen der gemeinen Kröte und den Beginn des Frühlings arbeitet er sich auf sehr wenig Platz vor zu einer der entscheidendsten, damals wie heute aktuellen, politischen Fragen: "Certainly we ought to be discontented, we ought not simply to find out ways of making the best of a bad job, and yet if we kill all pleasure in the actual process of life, what sort of future are we preparing for ourselves? If a man cannot enjoy the return of Spring, why should he be happy in a labour-saving Utopia? What will he do with the leisure that the machine will give him?“ Orwell zeigt mit diesem kurzen und wunderschönen Text zum Frühling, dass er einer der scharfsinnigsten politischen Schriftsteller seines Jahrhunderts war. Und noch dazu der menschlichste und freundlichste Mensch, die schönste Seele, die man sich denken kann.
„Die Kampagne soll Verwirrung, Panik und Angst verschärfen“
Zum geopolitischen Kontext der Corona-Krise ist dieser Text wichtig, der zeigt, wie die russische Regierung eine Desinformationskampagne, besonders in spanisch und italienisch gestartet hat, um den Westen in der Krise zu destabilisieren. Je länger die Krise dauert, umso gefährlicher werden solche Aktivitäten werden und umso eher brauchen sie den Widerstand von uns allen.
'Tip of the iceberg': is our destruction of nature responsible for Covid-19?
Zum ökologischen Kontext der Pandemie empfehle ich diesen faszinierenden Text, der darlegt, wie die menschliche Reduktion der Biodiversität dazu beiträgt, dass das Risiko neuer Krankheitserreger, die von wilden Tieren auf den Menschen übertragen werden, steigt.
Ein paar spannende Artikel (und ja, wir sind halt Nerds, not sorry for that)
„Collaborators in creation”
Ein meisterhafter Text über das Zusammenspiel von technischer und sozialer Innovation, von Lösungen zu technischen und politischen Problemen (Institutionen). Ein wichtiger Text zu der Frage, wie sich unser technisches Umfeld auf unser politisches Umfeld (und selbst unsere Biologie) verändern wird.
„Zwingendes Völkerrecht“ als Grenze von demokratischen Entscheiden gerät in der Schweiz unter Druck
Unser ehemaliges Vorstandsmitglied Julia Meier hat einen wichtigen und interessanten Text veröffentlicht (auf der Geschichte der Gegenwart), der sich mit der Geschichte des Schweizer Parlaments im Umgang mit Verletzungen des zwingenden Völkerrechts auseinandersetzt. Ausgehend von der Motion Regazzi, die u.U. eine Rückschaffung von Menschen auch in Staaten fordert, in denen sie gefoltert werden, zeigt sie auf, wie das Parlament in dieser Hinsicht unzuverlässig geworden ist und wie es damit nicht nur gegen zwingendes Völkerrecht, sondern auch gegen ein zentrales Demokratieverständnis der Schweiz verstösst.
„Abschied vom freisinnigen Allmachtsanspruch”
Ein schon etwas älterer Text, der packend erzählt, wie die Schweiz während des ersten Weltkriegs eine der ganz entscheidenden Weichen in ihren politischen Institutionen gestellt hat und von einem Majorz- zu einem Proporzwahlrecht gewechselt hat, wie sogar einige Freisinnige bereit waren, den sicheren Machtverlust, mit dem dieser Wechsel für sie verbunden war, hinzunehmen und wie dies die Schweiz zum Chancenland für die schwierigen Zeiten, die anstanden, machte. Ein Märchen mit Happy End für Verfassungspatriot*innen.
„‘Viral’ Hunts? A Cultural Darwinian Analysis of Witch Persecutions”
Verhalten sich kulturelle Einheiten ähnlich wie biologische Einheiten? Gibt es nicht nur Gene, sondern auch Meme, die einer natürlichen Selektion unterliegen und "viral" gehen können, wenn sie perfekt an ihre Umwelt angepasst sind? Was in der Popkultur ein verbreiteter Gedanke (ein erfolgreiches Meme!) ist, wird von den Sozialwissenschaften skeptisch beäugt. Zu Unrecht, sagt dieser Artikel, der am Beispiel der Hexenprozesse der frühen Neuzeit darlegt, dass dieses Phänomen nur als ein Meme verstanden werden kann, das ausserordentlich gut darin war, Kopien von sich selber zu produzieren, auch wenn es den Menschen, die von ihm befallen waren, insgesamt geschadet hat.
„Below the Asphalt Lies the Beach”
Vielleicht geht es manchen von euch wie mir; dass ihr oft mit Konzepten oder Traditionen der sog. "kritischen Theorie" konfrontiert seid, ohne dass ihr genau beschreiben könnt, was das ist, oder alles daran versteht. Sheila Benhabib hat nun einen kurzen aber grossartigen Text geschrieben, um dieses Verständnis zu verbessern. Sie beginnt bei Kant und nimmt uns von dort auf eine intellektuelle Reise durch eine komplizierte, unübersichtliche und manchmal widersprüchliche Tradition mit, die von Horkheimer zu Foucault, zu Derrida, zu Habermas und zu Benhabib selber führt. Der Text ist zwar schwierig und trocken, aber er macht dafür klar: Am Ende geht es um das Denken als Form der Emanzipation. Unter dem Pflaster liegt der Strand.
„Algorithmic Governance and Political Legitimacy”
Einer der besten Texte, die ich bisher zu Digitalisierung und Staat gelesen habe (ein Tipp von unserem Digitalisierungs-Experten Nicolas Zahn). Der Artikel behandelt die Frage, wie automatisierte Entscheidungsfindung im Staat dessen Legitimität untergraben wird und was das mit dem Aufstieg von Rechtspopulismus zu tun haben könnte.
Weil es wirklich mal wieder Zeit ist, ein richtiges Buch zu lesen (oder es sich zumindest vorzunehmen)
„Normal People”
Der sehr erfolgreiche, von der Schweiz ausgehende Hashtag #dichterdran wurde ursprünglich ausgelöst durch eine sexistische Kritik an einer Autorin, die zweifellos zu den talentiertesten Schriftstellerinnen ihrer Generation zählt, die aber auf ihr Äusseres reduziert wurde. So soll denn hier ihr zweites Buch empfohlen werden. Sie heisst Sally Rooney, ihr Buch heisst "Normal People" und es ist ein unglaublich fein beobachtetes und elegant gezeichnetes Portrait der Generation X. Lange nicht mehr einen so schönen und relevanten Roman gelesen. A future classic.
„Völkerrecht: Geschichte und Grundlagen. Mit Seitenblicken auf die Schweiz.”
Dieses Buch ist zwar schon seit anderthalb Jahren draussen, ich konnte es aber erst kürzlich lesen und ich kann es sehr empfehlen, auch und gerade für Laien. Ein gerade mal 200 Seiten dünnes Buch, das eine sehr zugängliche und spannende Einführung in das Völkerrecht ist - ein Thema, das uns immer wieder beschäftigen wird - und was die Rolle der Schweiz in diesem ist. Insbesondere die Aufarbeitung der Geschichte des Völkerrechts ist elegant und prägnant.
„Gender Innovation and Migration in Switzerland”
Zuwanderung wird heute (und wurde schon früher) landläufig als ein Prozess dargestellt, der die Errungenschaften der Emanzipation gefährdet (weil Migrierende angeblich patriarchalischen kulturellen Ballast mitbringen, der sich auf die hiesige Gesellschaft auswirkt). Francesca Falk, Historikerin an der Uni Fribourg, hat nun ein Buch vorgelegt, in dem sie zeigt, wie oft Zuwanderung in der Schweiz auch zu Impulsen für die Emanzipation geführt hat, und sei es nur, weil migrantische Frauen öfter ausser Haus arbeiten mussten. Dies ist das Interview zum Buch.
Daron Acemoglu und James Robinson: Why nations fail
Eines der faszinierendsten, reichsten und spannendsten Sachbücher, das ich je gelesen habe. Entwickelt an zahlreichen historischen Beispielen das zentrale Argument, dass Institutionen und nicht Mentalitäten, die geografische Lage oder das Klima für den Wohlstand in Staaten verantwortlich sind. Sie identifizieren die Inklusivität von Institutionen als das zentrale Qualitätsmerkmal, das sie zum Baustein für wohlhabende Länder macht.
„The Race Card”
Impliziter Rassismus oder sog. "Dogwhistle"-Rassismus macht rassistische Anspielungen, die von denjenigen verstanden werden, die sie verstehen sollen, von denen sich nach aussen hin aber abstreiten lässt, dass sie rassistisch seien. Eine Analysekategorie, die wir auch bei Operation Libero in unserer Analyse von Rechtspopulismus bis heute nicht so stark betont haben, wie wir hätten sollen. Tali Mendelberg hat zu diesem Phänomen eine klassische Analyse verfasst, die in ihrer Klarheit und Prägnanz eine Wucht ist. Wir haben hier den Gratiszugang zum Einleitungskapitel verlinkt.
„James M. Buchanan. A Theorist of Political Economy and Social Philosophy.”
Eine Besprechung eines Buches zu Ehren von und über Wirtschafts-Nobelpreisträger James Buchanan. Nach meinem Dafürhalten fällt diese Besprechung etwas gar enthusiastisch aus und die dunkleren Seiten von Buchanan werden etwas gar selbstverständlich überblendet. Aber das Buch ist sicher lesenswert, und seine Besprechung ist es daher auch.
Hier noch, statt ein Buchtipp, ein Tipp für Buchtipps
Anstelle eines eigenen Buchtipps, hier die Buchtipps der Blogger von "Napoleons Nightmare", was ein sehr sachkundiger Blog ist, wo die Autoren aber in der Tendenz einem spezifischen, problematischen Verständnis von direkter Demokratie sehr viel Gewicht einräumen und dem Schutz der Rechte Einzelner sehr wenig. Die Bücherliste dokumentiert aus meiner Sicht zweierlei: Einerseits, wie viel Literatur zum politischen System der Schweiz in der Schweiz und über die Schweiz in einem Jahr publiziert wird, und andererseits, wie der Konsens unter diesen Autorinnen und Autoren erodiert ist und es inzwischen eine wissenschaftliche Öffentlichkeit gibt, welche die Unantastbarkeit der direkten Demokratie betont, und eine andere, welche die Unantastbarkeit der international geschützten Menschenrechte betont.
Und gleich nochmals ein Tipp für Buchtipps:
„Colossus Wears Tweed”
Die Welt wird vom Neoliberalismus beherrscht; das ist eine der Binsenwahrheiten, von denen die Sozialwissenschaften heute allgemein ausgehen und die die Sozialwissenschaften allgemein beklagen. Dieser lange Artikel, der eine Reihe neu erschienener Bücher zum Thema bespricht, differenziert diese Binsenwahrheit und kommt zum Schluss: Es sind nicht die Ökonomen, die die Welt beherrschen, sondern immer noch das Kapital (und das ist nicht neoliberal, jedenfalls nicht nur).
Für diejenigen, die doch lieber Videos schauen…
„A Speech to Europe 2019”
Der grosse Timothy Snyder hält vor dem Holocaust-Denkmal in Wien die definitive Rede zur Europawahl. Eindringlich und einsichtig, die lange Version seines Argumentes, dass eine der fatalsten Vorstellungen über die EU darin besteht, dass sie sich aus ehemaligen Nationalstaaten zusammensetze. Bis auf die Technologie-Feindlichkeit ganz zum Schluss ist jedes Wort Gold.
… oder auf Podcasts schwören.
„Slavery’s Enduring Political Legacy”
Ein richtig guter Podcast. Er bespricht das Buch dreier Politologen in den USA, die zeigen, dass die Bodenqualität in Counties des Südens der beste Indikator ist für Rassismus, rassistische Kandidaten und rassistisches Wählerverhalten. Die Frage, ob man dort Baumwolle pflanzen konnte (und daher eigentlich die Frage, wie sich die Gletscher am Ende der Eiszeit zurück gezogen haben), ist heute noch entscheidend für die politische Struktur der Gesellschaft. Faszinierend, überzeugend – und gar nicht so pessimistisch, wie man denken könnte.
Das Coronavirus-Update mit Christian Drosten
Zum wissenschaftlichen Kontext von Corona kann ich den täglichen Podcast mit Prof. Drosten sehr empfehlen. Unglaublich interessant und klar. Und wenn ihr gefragt werdet, was denn die EU je gemacht habe in der Coronakrise: Hört euch die Folge vom 18.3. an. Sie zeigt, wie die kaum sichtbare regulative und organisatorische Infrastruktur der EU einen frühen und genauen Corona-Test ermöglicht hat, ohne, dass die EU je Credit dafür erhalten wird.
Und - natürlich! - noch 1 Studie zum Abschluss...
“Kommunikation auf sozialen Netwerkplattformen”
Eine wichtige Studie zu der Frage, wie wichtig soziale Medien im Verhältnis zu traditionellen Medien für die Meinungsbildung in der Schweiz sind.