Faktencheck #8: “Die Konzernverantwortungs-Initiative (KVI) führt zu einer erpresserischen Klageflut gegen Schweizer Konzerne”
FALSCH!
“Schweizer Unternehmen würden grundlos zum Opfer von Anklagen und langen, kostspieligen Prozessen. Das kann nicht sein. Damit würde den Menschen in Entwicklungsländern nicht geholfen, im Gegenteil. Andere Unternehmen mit tieferen rechtlichen Standards würden die Schweizer Unternehmen verdrängen. Und Schweizer Unternehmen würden mit Anklagen ausländischer Anwälte eingedeckt.”
Quelle: 20min.ch
Eine Annahme der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) ändert nichts an der Schweizer Zivilprozessordnung. Diese bestimmt, wie ein Verfahren vor Gericht abläuft, welche Partei also zum Beispiel was beantragen kann und beweisen muss. Ob “erpresserische Klagen” in der Schweiz realistisch sind, ist keine Frage der persönlichen Überzeugung, sondern ergibt sich aus dem geltenden Recht.
1. Was bedeutet ein Schweizer Zivilprozess für die Kläger*in?
Basierend auf den Erklärungen von Rechtsprofessorin und Expertin für Zivilverfahrensrecht Tanja Domej der Universität Zürich (im Tagesanzeiger vom 20. Oktober 2020) haben wir folgende Übersicht erstellt:
Schweizer Haftungsprozess (wie von der KVI vorgesehen)
Wer darf klagen?
- Klagen dürfen nur persönlich betroffene Personen, also die geschädigte Person selbst und unter gewissen Umständen ihre Angehörigen
- Sammelklagen wie in den USA sind bei uns nicht möglich
Auf was kann geklagt werden?
- Auf Schadenersatz und Genugtuung
- Es gibt keinen “Strafschadensersatz” (sog. punitive damages) wie etwa in den USA, der über die tatsächliche finanzielle Einbusse hinausgehen kann
Wer trägt die Kosten zu Beginn des Prozesses?
- Die Kläger*in muss zu Beginn des Prozesses einen Vorschuss für die Prozesskosten leisten
- Ausländische Kläger*innen müssen zudem auf Antrag der Beklagten für dessen Parteientschädigung (Anwaltskosten) Sicherheit leisten
Wer trägt das Risiko des Prozesses?
- Die Partei, die den Prozess verliert, trägt die Gerichtskosten und muss der Gegenpartei die allfällig geleisteten Vorschüsse ersetzen und eine Parteienentschädigung zahlen (z.B. für Anwaltskosten)
- Die unterliegende Partei trägt auch wenn sie unentgeltliche Rechtspflege erhält, die Kosten für die Parteientschädigung
Welcher zeitliche und andere Aufwand erwartet die Kläger*in?
- Kläger*innen müssen damit rechnen, dass der Prozess mehrere Jahre dauert
- Die klagende Partei muss nicht nur beweisen, dass sie einen Schaden erlitten hat, sondern auch dass das Unternehmen ein Menschenrecht oder einen internationalen Umweltstandard verletzt hat und dass ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Schaden und der Rechtsverletzung besteht
Lohnt sich eine Klage finanziell?
- Bereicherungsverbot: Der geschädigten Person darf keine Entschädigung zugestanden werden, die den erlittenen Schaden übersteigt
- Die Schweiz ist bekannt für eine sehr zurückhaltende Bemessung der Genugtuungssummen, Zahlen in Millionenhöhe sind unrealistisch
- Bei ausländischen Kläger*innen können ausserdem tiefere Lebenshaltungskosten im Herkunftsland zu einer tieferen Berechnung der Genugtuung führen. Dasselbe gilt für den Schadenersatz, der auf das Lohn- und Preisniveau am Schadensort angepasst werden kann
Laut Professorin Domej wären Klagen nach einer Annahme der KVI wahrscheinlich “an einer Hand abzuzählen”, weil die Schweiz für solche Klagen prozessrechtlich kein attraktives Land ist. Die von den Gegner*innen befürchtete “Klageindustrie” sei in der Schweiz nicht möglich, weil die gesetzliche Ausgestaltung der Haftungsprozesse schlicht zu unattraktiv ist. Die vorgeschlagene Haftungsregelung der KVI ist ausserdem auch im internationalen Vergleich unternehmer- und nicht klägerfreundlich.
2. “Wo kein Kläger, da kein Richter” - trotzdem ist die Haftungsnorm wichtig
Wie würde die befürchtete «Klagewelle» überhaupt zustandekommen? Wie wäre der Zugang zur Schweizer Justiz für Menschen im Ausland, deren Rechte von einer Konzernverantwortungsnorm geschützt würden? Dazu braucht es für die Betroffenen Zugang zu Informationen über ihre Rechte, die in nationalen und internationalen Normen verankert sind. Es braucht das Wissen, die Ressourcen und die Zeit, um sich mit Rechtsnormen und Gerichtsprozessen auseinanderzusetzen – und dies vor einem für sie ausländischen Gericht. Auch für eine NGO, die sich der Interessen der Opfer allenfalls annehmen würde, sind die finanziellen und prozessualen Hürden der schweizerischen Justiz hoch.
Wenn kaum Klagen oder haftungsrechtliche Konsequenzen zu erwarten sind, wieso ist die Einführung einer Konzernverantwortungsnorm dennoch wichtig und wirksam? Es ist ganz simpel: Wer für einen Schaden verantwortlich ist, muss für diesen finanziell aufkommen. Dieses Prinzip muss gelten und deshalb ist die Haftungsnorm bei der KVI wichtig. Wirksam ist die KVI aufgrund der Kombination von Sorgfaltsprüfungspflicht und Sorgfaltsbeweis im Falle einer Klage, die den notwendigen Anreiz für Konzerne schafft, in die Prävention von Menschenrechtsverletzungen zu investieren. Denn wenn rechtliche Konsequenzen im Falle einer Verletzung der Sorgfaltspflichten drohen, steigt der Anreiz für Konzerne, ihre Sorgfaltspflichten ernst zu nehmen.
Fazit
Zivilrechtliche Haftungsprozesse - wie von der KVI vorgesehen - sind für die Kläger*innen teuer, aufwändig und risikoreich. Finanziell bereichern kann man sich damit nicht. Wer nach Annahme der KVI eine “erpresserische Klageflut” befürchtet, hat vom Schweizer Zivilprozessrecht nichts verstanden. Denn ungerechtfertigte Klagen lohnen sich in der Schweiz nicht.