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Verfassungspatriotismus

Wir wollen pflegen und gestalten

Der Themenverantwortliche im Vorstand der Operation Libero für den Bereich Gesellschaftspolitik, Stefan Schlegel, erläuterte an der ausserordentlichen Generalversammlung von 23. April 2016, was aus seiner Sicht momentan die inhaltlichen und strategischen Prioritäten der Bewegung im Bereich Gesellschaftspolitik sind:

von Stefan Schlegel

Es könnte auch deshalb eine ausserordentliche GV sein, weil wir Ausserordentliches zu feiern haben, nicht bloss, weil wir ausserordentliche Traktanden hatten.

Verantwortung statt Stolz

Von Beginn an haben wir bei der Operation Libero den Begriff des Verfassungspatriotismus verwendet. Es ist ein Begriff, der Patriotismus mehr als ein Verantwortungsgefühl beschreibt, denn als Stolz – stolz zu sein auf die eigene Herkunft, für die man nichts kann, ist ohnehin etwas recht seltsames. Verfassungspatriotismus betont hingegen das Bewusstsein, dass uns Errungenschaften in die Hände gegeben worden sind, die wertvoll und zerbrechlich sind und die zu verteidigen und zu pflegen wir eine grosse Verantwortung aber auch grosse Lust haben.

Der Begriff bringt auch die Idee zum Ausdruck, dass die Einzigartigkeit eines Landes und die Lebensqualität in diesem Land nicht in erster Linie mit einer Kultur oder Mentalität zu tun hat, sondern mit den Institutionen, den staatlichen und den privaten, und dass diese Institutionen es sind, die gepflegt, geschützt und für die Zukunft weiter entwickelt werden müssen.

Einige hässliche Flecken

Die Verfassung, die zu schützen und zu pflegen wir angetreten sind, ist eine sehr gute Verfassung. Sie schützt die Grundrechte, sie bettet die Schweiz ein in eine internationale Ordnung, sie limitiert und verteilt politische Macht im Land, in dem sie das Land sehr stark demokratisch und föderalistisch organisiert und politische Institutionen mit sehr flachen Hierarchien konstruiert. Doch sie enthält auch einige hässliche Flecken, wie die Minarett-, die Ausschaffungs-, die Verwahrungs- oder die Masseneinwanderungsinitiative – diese Flecken sind ein wichtiger Grund dafür, warum wir uns zusammen gerauft haben und angefangen haben, unsere politischen Anstrengungen in der Operation Libero zu systematisieren. Aber insgesamt ist es eine ausgezeichnete Verfassung, die uns, auf Grund ihrer Qualität, auf Grund des unwahrscheinlichen Glücks, dass ein Werk, das soviel Freiheit und Lebensqualität ermöglicht, entstehen konnte, aber auch auf Grund ihrer Verletzlichkeit eine grosse Verantwortung auferlegt, sie für die Zukunft, für die kommenden Generationen, zu pflegen.

Es wäre eine andere Verfassung, wenn wir nicht wären

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen unserem Verfassungspatriotismus bei der Gründung der Operation Libero vor anderthalb Jahren und unserem Verfassungspatriotismus jetzt: Unsere Verfassung ist wahrscheinlich heute eine andere, als sie es wäre, wenn es uns nicht gäbe. Wir haben sie nicht nur von einem weiteren Flecken bewahrt, welcher von allen bis jetzt der hässlichste gewesen wäre und diese Verfassung insgesamt in ein ernstes Durcheinander gebracht hätte – die Durchsetzungsinitiative (DSI). Noch einen zweiten haben wir zu verhindern mit geholfen – was im Trubel um den Sieg gegen die DSI vielleicht etwas untergegangen ist – aber ebenfalls durch ein riesiges Engagement von unserer Seite mit zum Erfolg geführt werden konnte und ebenfalls sehr nah an unserem Herz ist: die Verhinderung einer homophoben und diskriminierenden Ehe-Definition, die ein unerklärlicher Fremdkörper gewesen wäre in einer Verfassung, die sich dazu verpflichtet, Menschen nicht auf Grund der Merkmale ihrer Persönlichkeit zu diskriminieren und nicht in die persönliche Freiheit von Menschen einzugreifen, solange nicht zwingende öffentliche Interessen dies nötig machen.

Wenn wir also in Zukunft sagen, das sei „unsere Verfassung“, dann können wir das nicht nur in dem Sinn meinen, dass es jene Verfassung ist, die von vorangehenden Generationen auf uns gekommen ist, es ist unsere Verfassung in dem Sinne, dass wir sie mit gestaltet haben. Sie ist dadurch noch stärker zu unserer Verfassung geworden und wir sind umso entschlossener und haben umso mehr Lust dazu, sie in Zukunft zu verteidigen und – sobald als möglich – sie auch in unserem Sinne zu ergänzen.

Ich möchte einen kurzen Überblick geben, was diese Ziel für uns momentan, im Frühjahr 2016 bedeutet.

Referendum gegen das Asylgesetz: Umgang mit einer politischen Unkultur

Momentan sind wir vor allem damit beschäftigt, die politische Kultur zu bekämpfen, die unsere Verfassung in letzter Zeit in ernsthafte Gefahr gebracht hat und die auch auf der Ebene der Gestaltung von Gesetzen eine problematische Rolle spielt. Es ist die Unkultur, Emotionen in der Politik gezielt und manipulativ einzusetzen und sie an die Stelle von Argumenten zu setzen. Das ist besonders problematisch, wenn die Emotionen, die mobilisiert werden, Angst und Futterneid sind, diejenigen Emotionen, die sich am besten für die Politik mobilisieren lassen und Argumente am zuverlässigsten verdrängen. Wir haben es momentan mit einem Referendum zu tun, das nicht nur ausschliesslich mit diesen Emotionen arbeitet, sondern das sogar ausschliesslich ergriffen worden ist, um mit diesen Emotionen arbeiten zu können. Das ist eine Verluderung der politischen Kultur, die nicht nur die sinnvolle Weiterentwicklung des Asylwesens gefährdet, sondern auch ein Problem für die direkte Demokratie darstellt. Wir versuchen, dies zu bekämpfen, so gut wir können, in dem wir dem unredlichen Referendum gegen das Asylgesetz (das so fadenscheinig ist, dass seinen Urhebern selber nicht recht wohl ist damit, weshalb sie nur eine Schmalspur-Kampagne fahren) nüchterne Argumente entgegenstellen und so demonstrieren, was unserer Ansicht nach der richtige Modus ist, um ein so emotionalisiertes Gebiet, wie das Asylrecht zu pflegen: Ein kühler Kopf und Redlichkeit, auch da, wo sich die Chance bietet, ein paar billige politische Punkte zu machen.

Burkaverbot: Wichtig trotz seiner unglaublichen Unwichtigkeit

Ein weiteres Beispiel, in dem wir versuchen wollen, die Verfassung von einem hässlichen Tolken zu bewahren, ist das Burkaverbot, mit dem Frauen, die anders sind und ihr Anderssein zur Schau tragen, dem väterlichen Zwang von Papa Staat unterworfen werden sollen. Ein Verbötchen von so atemberaubender Unwichtigkeit wie dieses, das dazu noch recht weit in der Zukunft erst an die Urnen kommen wird, sollte nicht eine Priorität sein für eine Bewegung, die ernsthafte Politik machen möchte, sollte man meinen. Die Zeit, die wir investieren in die Bekämpfung von diesem identitären Populismus, die bekommen wir nie wieder zurück, von denen, die uns das eingebrockt haben. Aber es zeigt sich – an Hand der Reaktionen, die wir auf unsere Petition von vorletzter Woche erhalten haben – dass dieses Verbötchen eine ausgezeichnete Gelegenheit bieten wird, einige grundsätzliche Themen zu einer freiheitlichen Gesellschaft anzusprechen.

Zum Beispiel, dass es ein Recht gibt, Religion (oder sonst eine Weltsicht) offen und sogar penetrant zur Schau zu tragen und dass es umgekehrt kein Recht gibt, durch den Staat vor Begegnungen geschützt zu werden, die man als irritierend oder verstörend empfindet. Eine freiheitliche Gesellschaft bringt somit auch das Recht mit sich, sich für ein Wertesystem zu entscheiden, das individuelle Freiheit radikal ablehnt und dies offen zur Schau zu tragen. Es erlaubt uns auch zu thematisieren, dass es keine Sippenhaft gibt in der Schweiz und dass daher eine Muslima, die in einer Burka rumlaufen möchte, keine Verantwortung übernehmen muss für die Repressalien, die andere Menschen in muslimischen Staaten erfahren. Und vor allem aber können wir damit ansprechen, dass auch bei abweichendem Verhalten gilt: die betroffene Person wird am besten selber wissen, was gut ist für sie. Das gilt auch dann noch, wenn sie eine Frau ist und wenn sie eine andere Religion hat als die Mehrheit.

Soviel zu den aktuellen Themen. Ich möchte noch einen ganz kurzen Ausblick wagen, was uns in den kommenden Jahren prioritär beschäftigen wird:

Unser Verhältnis zu Europa: Die Mutter aller Schlachten

Die Mutter aller Schlachten – wie Toni Brunner zu sagen beliebt – wird auch für die Operation Libero der Kampf um unser Verhältnis zu Europa sein. Die Masseneinwanderungsinitiative und die Weigerung breiter politischer Kreise, anzuerkennen, dass der Bilaterale Weg längst an seine Grenzen gestossen ist, gefährden dieses Verhältnis akut. Sollte der Bundesrat seine Ankündigung einer einseitigen Schutzklausel wahrmachen – was nichts anderes ist, als die Ankündigung, von nun an jederzeit die Bilateralen Verträge brechen zu wollen, dann hängen bis auf unabsehbare Zeit gleich zwei Damoklesschwerter über der Schweiz: Das eine ist die Ungewissheit, ob der Bundesrat seine Drohung der Vertragsverletzung nun wahrmacht, und das andere ist die Ungewissheit, welche Retorsionsmassnahmen die EU gegen diese Vertragsverletzung ergreifen wird. Beide wären für sich alleine Gift für den Werk-, Forschungs- und Bildungsplatz Schweiz.  Gemeinsam sind sie fatal.

In welcher Form diese Mutter aller Schlachten schliesslich an die Urne kommt, ist noch unklar. Je mehr wir das Gelände dafür vorbereiten können, umso besser. Denn verloren gehen darf sie nicht. Sie muss enden mit einem geordneten Verhältnis der Schweiz zu Europa, das weiter entwickelt und den Bedürfnissen der Zeit angepasst werden kann, in dem Konflikte gelöst statt angehäuft werden können und in dem die Schweiz die Politik mitbestimmen kann, von der sie betroffen ist.

Bereits heute klar ist allerdings, dass diese Schlacht bereits vorab entschieden werden soll, in dem die Schweiz nämlich dazu gezwungen würde, gegenüber Europa – und gegenüber all ihren anderen Partnern ebenfalls – zur notorischen und zwangshaften Vertragsberecherin zu werden. Es ist die Anti-Völkerrechtsinitiative der SVP, die verallgemeinern will, was die Durchsetzungsinitiative nur für die Menschenrechte wollte: Dass die Schweiz ihre Verträge verletzen muss, wann immer eine Volksinitiative mit diesen im Widerspruch steht. Dieser Angriff auf die Zuverlässigkeit der Schweiz als Vertragspartnerin und damit auf alle Interessen der Schweiz, die sie durch Kooperation mit ihren ausländischen Partnern verfolgt, ist in der Grundsätzlichkeit, mit der er die Handlungsfähigkeit des Landes gefährdet, noch gefährlicher als die DSI und ihre Bekämpfung muss ganz oben auf unserer Prioritätenliste stehen. Ihre Annahme wäre nicht nur ein hässlicher Fleck in unserer Verfassung, es wäre ein viel grundlegenderes Problem: Die Handlungsfähigkeit des Staates, welche die Verfassung gerade gewähren soll, würde dadurch mindestens im Aussenverhältnis stark beeinträchtigt.

Zeit für die Vorwärtsbewegung

Aber wie gesagt: Wir haben die Operation Libero nicht nur gegründet, um die Verfassung gegen Angriffe zu verteidigen. Der Libero ist nicht nur der hinterste Spieler, der verhindert, dass es zum Äussersten kommt; er ist auch der Spieler, der die entscheidenden Bälle in die Mitte schlägt und damit einen Angriff einleitet. Einen der ersten solcher Beiträge zu einem Fortschritt in der Schweiz, eine positive Gestaltung, an der wir mitwirken könnten, ist die Ehe für Alle, die endlich auch in der Schweiz eingeführt werden soll und für die der Weg nun frei ist, da die homophobe Ehedefinition der CVP-Initiative abgewendet werden konnte. Das wird eines der Themen, in denen wir nicht bloss verteidigen, sondern proaktiv, gestalterisch tätig sein wollen.

Diese Möglichkeit, nicht nur Verteidigen zu können – was wir können, wie wir gezeigt haben – sondern auch gestalten zu können, die Agenda und die Stimmung im Land und zuletzt seine Verfassung und seine Gesetze prägen zu können, muss eine unserer Prioritäten sein; in unserer politischen Arbeit ebenso, wie in der Entwicklung und im Aufbau der Bewegung.

Durch unsere Arbeit seit dem Sieg gegen die DSI, durch die Schaffung und den Aufbau der Geschäftsstelle, wie sie heute vorgestellt worden ist, durch den Ausbau und die Verstärkung des Vorstandes, wie wir sie soeben vorgenommen haben, vor allem aber durch eure Mithilfe, eure Energie und euren Enthusiasmus, haben wir die Grundlage dafür gelegt, von der Verteidigung in den Angriff über zu gehen.

Und wir freuen uns sehr darauf.