Wir lieben’s, wir lieben’s nicht, wir lieben’s, wir lieben’s nicht...
Wieso die Kritik an Schengen richtig ist – und wieso sie ein weiterer Grund ist, um am 19. Mai JA zu stimmen.
Es ist so eine Sache mit der Liebe. Sie ist nicht immer nur schön, kommt selten ohne Störgeräusche aus. Wer liebt, kennt auch die Abgründe. Nichts ist perfekt – und Schengen ist das beste Beispiel dafür.
Denn Schengen ist eine zweischneidige Sache: Das Schengen-System erhöht unsere Sicherheit und ermöglicht uns gleichzeitig einen enormen Zugewinn an Freiheit. Das gilt allerdings nur für all jene, die bei Schengen dabei sind. Wer im Abkommen drin ist, gewinnt. Wer nicht drin ist, nicht. Wer draussen ist, ist Ausschlussmechanismen, Grenzkontrollen und einem bürokratischen und oft kafkaesken Visums-System ausgesetzt. Das Machtgefälle zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören, wurde grösser.
Das Schengen-Abkommen und damit die Öffnung der innereuropäischen Grenze steht für eine der grösste Freiheitlichen Errungenschaften Europas – und zeitgleich für eines der grössten Versagen Europas.
Da Europa es versäumt hat, legale Migrationswege zur Verfügung zu stellen und die Möglichkeit zu schaffen, von ausserhalb des Schengen-Raumes um Schutz nachzusuchen, gelten die freiheitlichen Errungenschaften nur für jene, denen der Zufall der Geburt einen Platz innerhalb des Schengen-Raumes zugewiesen hat. Die anderen zwingt das Schengen-System auf gefährliche Reisen, um die immer unerbittlicheren Grenzkontrollen an den Aussengrenzen umgehen zu können - Reisen auf denen sie grossen Entbehrungen, Ausbeutung aller Art und immer öfter dem Tod in der Wüste oder im Meer ausgesetzt sind. Schengen hat eine pechschwarze Unterseite. Es ist das, wofür Europa sich in einigen Jahrzehnten wird entschuldigen müssen.
Noch hinzu kommt das Dublin-System, welches Teile des europäischen Asylwesens regelt und mit dem Schengen-Abkommen verbunden ist: Die Assoziierung an Schengen und die Assoziierung an Dublin hängen zusammen. Sie konnten nur gemeinsam in Kraft treten und wenn Schengen entfallen würde, dann würde Dublin gleichzeitig ebenfalls entfallen. Das macht Sinn. In einem Raum ohne Binnengrenzkontrollen braucht es gemeinsame Regeln betreffend der Zuständigkeit zur Durchführung von Asylverfahren (was das Dublin-System regelt), wenn verhindert werden soll, dass keiner der Staaten sich zuständig fühlt für bestimmte Asylsuchende (refugees in orbit) und wenn verhindert werden soll, dass Asylsuchende von Land zu Land gehen und in jedem ein neues Asylverfahren durchlaufen können (asylum shopping). Umgekehrt kann es auch kein gemeinsames Asylsystem geben ohne gemeinsame Grenz- und Visa-Kontrollen (wie Schengen sie schafft), da sonst die Regeln des einen Staates zu Asylsuchenden für den anderen Staat führen würden
Das Dublin-System ist alles andere als perfekt. Der Umgang mit Migration in Europa verursacht Leid und verhindert Chancen. Wir kennen die Bilder.
Es wird kritisiert, dass das Dublin-System dazu führe, dass Menschen in Europa hin und her geschickt werden; dass Dublin die Autonomie der Asylsuchenden in problematischer Weise einschränke. Die Staaten im Süden Europas monieren, dass das Dublin-System die Verantwortung für Asylverfahren ungerecht verteilt. Und die Staaten im Norden Europas monieren, dass das System der Rückübernahme von Asylsuchenden, für die sie nicht zuständig sind, nicht gut funktioniere.
Das stimmt alles.
Und dennoch: Wir brauchen das Dublin-System. Wir müssen für den Moment mit ihm arbeiten, trotz all seinen Mängeln. Denn ein noch viel grösserer Mangel als ein mangelhaftes System wäre gar kein System. Dublins grundsätzliche Idee – ein Verfahren ist allen Asylsuchenden garantiert, aber eben nur eins – ist immer noch gut und richtig.
Man kanns Dublin aufgrund seiner Mängel hassen.
Man kann Schengen kritisieren.
Aber man kann auch die Freiheiten lieben, welche Schengen den Menschen, welche darin leben, gegeben hat.
Und man sollte sich vor allem bewusst sein, dass dies alles – grenzüberschreitende Zusammenarbeit, gemeinsame Lebensräume, Bewegungsfreiheit, der Wegfalls stationärer Grenzkontrollen, keine stundenlanges Warten an den Grenzen – nicht selbstverständlich ist. Auf einem Kontinent, der vor 30 Jahren noch durch einen eisernen Vorhang geteilt war, ist die Öffnung der innereuropäischen Grenzen für uns Bürgerinnen und Bürger eine grosse freiheitliche Errungenschaft. Möglich war diese Errungenschaft dank dem Schengen-System.
Für diese Freiheiten sollte man Schengen wertschätzen. Ja, man kann es dafür sogar lieben. Muss man aber nicht.
Wir können die Kritik an Schengen und Dublin, wie sie beispielsweise das Online-Magazin “Die Republik” formuliert hat, nachvollziehen. Doch man sollte aufgrund dieser Errungenschaften Schengen/Dublin politisch verteidigen. Um es gemeinsam verbessern zu können.
Darum kämpfen wir für die Weiterführung der Schengen-Assoziation der Schweiz.
Aus diesen 9 Gründen stimmen wir JA am 19. Mai:
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit: Das sind die Werte, auf denen Europa gebaut ist und das sind auch die Werte der Schweiz. Wir leben in einem Europa des Friedens und der Zusammenarbeit und das ist – gerade auch für einen Kleinstaat wie uns – sehr gut so. Wir sind erfolgreich, weil wir zusammenarbeiten mit unseren Nachbarn. Wir sind deswegen sicherer und freier als die Generationen vor uns. Das Schengen-Abkommen ist das beste Beispiel dafür, dass es Sinn macht, zusammenzuarbeiten: Es bringt uns mehr Sicherheit und mehr Freiheit zugleich.
Auf einem Kontinent, der vor 30 Jahren noch durch einen eisernen Vorhang gespalten war, ist die Öffnung der innereuropäischen Grenzen für uns Bürgerinnen und Bürger eine grosse freiheitliche Errungenschaft. Möglich war diese Errungenschaft dank dem Schengen-System. Unsere Wirtschafts- und Lebensräume sind dadurch zusammengewachsen oder zusammengerückt – durch diese Räume nun eine Schengen-Aussengrenze zu ziehen, würde viel Gutes wieder kaputt machen.
Stimmen wir am 19. Mai NEIN, würde unsere Mitgliedschaft in Schengen rechtlich gesehen nach sechs Monaten automatisch enden. Einzig ein einstimmiger Entscheid aller Mitgliedsstaaten könnte dieses automatische Ende noch abwenden. Die Frist für die Notifizierung läuft bereits Ende Mai 2019 aus, die Frist für die Lösungssuche im gemischten Ausschuss Ende August. Noch einmal 90 Tage später, also pünktlich auf den Weihnachtsverkehr, könnte Schengen entfallen. Wer weiss, vielleicht lässt sich mit viel Glück auf politischem Wege eine vorübergehende Lösung finden – aber sicher ist, dass die Schweiz sich freiwillig in eine Situation begibt, in der sie unter extremem Zeitdruck wäre, in der extreme Rechtsunsicherheit herrschen würde und in der sie sich in extremer Abhängigkeit befände. Sie wäre dem Veto jedes einzelnen Mitgliedsstaates ausgeliefert. Wir müssen unbedingt vermeiden, dass wir uns selber in diese schlechteste aller denkbaren Verhandlungspositionen manövrieren.
Dank Schengen können wir uns zwischen 26 europäischen Staaten frei und unkompliziert fortbewegen und reisen – ohne stundenlange Staus, Warteschlangen, und stationäre Personenkontrollen an den Grenzen. Für über zwei Millionen Menschen, die täglich in beide Richtungen über die Schweizer Grenze gehen – zum Arbeiten oder auch für ein Ausflügli – ist dies eine enorme Erleichterung. Mit einem NEIN am 19. Mai könnte die Schweizer Grenze zur Schengen-Aussengrenze werden – mit systematischen Kontrollen sämtlicher Reisender, langen Wartezeiten beim Grenzübertritt und somit vielen Mühseligkeiten.
Schengen bringt Sicherheit: Dank dem Schengener Informationssystem (SIS II) können innert kürzester Zeit gesuchte Personen oder z.B. auch gestohlene Fahrzeuge international zur Fahndung ausgeschrieben werden. Über das System erhalten wir zudem auch wichtige Informationen über gestohlene Waffen, um so den illegalen Waffenhandel zu bekämpfen. Die Nutzung der Fahndungsdatenbank durch die Schweiz führt fast täglich zu einer Verhaftung einer gesuchten Person.
Verbrechen machen nicht an Landesgrenzen halt. Heutzutage handeln die organisierte Kriminalität und Terrornetzwerke länderübergreifend. Wenn die Polizeibehörden der einzelnen Staaten nur für sich selber schauen, dann begeben sie sich gegenüber dem grenzüberschreitenden Verbrechen in einen unaufholbaren Nachteil. Nur mit einer engen Zusammenarbeit ist dem Verbrechen beizukommen. Diese Zusammenarbeit ist dank Schengen gewährleistet.
Die Schengen-Staaten haben eine gemeinsame Richtlinie zum Waffenrecht. Diese wurde kürzlich gemeinsam überarbeitet. Die Schweiz konnte bei der Ausarbeitung der neuen Richtlinie mitreden und in den Verhandlungen wichtige Zugeständnisse erreichen: Halbautomatische Waffen werden zwar grundsätzlich verboten, aber Armeeangehörige dürfen ihre Dienstwaffe auch weiterhin behalten und zu Hause aufbewahren. Und Sportschützen müssen neu einfach nachweisen, dass sie einem Verein angehören oder zumindest regelmässig schiessen. Wir halten diese Änderungen für moderat und sinnvoll – und vor allem wäre es fahrlässig, für solche marginalen Anpassungen, Schengen aufs Spiel zu setzen.
Das Dublin-Abkommen, welches Teile des europäischen Asylwesens regelt, ist mit dem Schengen-Abkommen verbunden. Fliegen wir aus dem einen, entfällt automatisch auch das andere. Gemäss dem Dublin-Abkommen kann jeder Asylbewerber im Schengen-Raum nur ein Asylverfahren durchlaufen. Wären wir nicht mehr dabei, könnten alle Asylsuchenden, die in einem Dublinstaat abgewiesen werden, danach noch in der Schweiz Asyl beantragen, obwohl die Chancen auf Asyl auch hier kaum vorhanden wären. Das Dublin-System ist nicht perfekt, es hat grundlegende Mängel. Doch ein noch viel grösserer Mangel als ein mangelhaftes System wäre gar kein System.
Am 19. Mai stimmen wir auch generell über die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Europa ab. Würde wir aus Schengen und Dublin rausfliegen – und damit müssten wir bei einer Ablehnung rechnen – würden auch die Bilateralen als Ganzes gefährdet werden. Stationäre Grenzkontrollen würden den Binnemarktzugang erschweren. Vor allem aber würde die Errichtung einer Schengen-Aussengrenzen mitten durch gewachsene Agglomerationen, Lebens- und Arbeitsräume die Interessen der Bevölkerung in der Grenzregionen schwer gefährden. Sie wären in ihren Möglichkeiten zu arbeiten, ihre Dienstleistungen anzubieten, einzukaufen und ihr Familienleben zu pflegen empfindlich eingeschränkt. Die Interessen dieser Bevölkerung würden die künftige Beziehungen der Schweiz und der EU prägen. Jede Weiterentwicklung dieser Beziehung würde die Frage wieder aufbringen, wie die Schweiz denn das Leben der grenznahen Bevölkerung zu erleichtern gedenke. Bevor die Schweiz auf ihren Schengen-Entscheid nicht zurückkäme, kämen die Beziehungen zu Europa keinen Zentimeter vom Fleck.