Nimmt Uri den Schweiz-Austritt in Kauf?
Ein Gedankenexperiment
Liebe Bürger*innen des Kantons Uri
Angenommen das Staatssekretariat für Migration (SEM) würde Menschenrechte verletzen oder diese Verletzungen zumindest billigen: Würdet ihr den Austritt des Kantons Uri aus der Schweizerischen Eidgenossenschaft aktiv fordern oder nötigenfalls in Kauf nehmen, als Zeichen gegen diese Menschenrechtsverletzungen?
Wenn die Antwort Ja lautet, lassen wir das so stehen.
Wenn die Antwort Nein lautet, ihr jedoch die Schengen-Weiterentwicklung am 15. Mai ablehnen wollt, dann sollten wir darüber reden, worin der relevante Unterschied liegt. Denn genau das riskiert die Schweiz mit einem Nein: das Rausschlittern aus dem Schengen-Abkommen. Warum also sollte man diese beiden Fragen unterschiedlich behandeln?
Uri ist Teil der Schweiz, die Schweiz Teil Europas
Eine erste Begründung für die unterschiedliche Handhabung der beiden Szenarien könnte sein, dass die europäische Rechtsordnung irgendwie schlechter oder weniger legitim ist als die schweizerische. Nennen wir sie «die Europa-Verdrossenheit»: Wahlweise wird die EU quer durchs politische Spektrum als «Fehlkonstruktion» (SVP-Nationalrat Roger Köppel) oder «leere Struktur» (Juso-Präsidentin Ronja Jansen) bezeichnet, die «an ihrer eigenen Monstrosität ersticken wird» (Schriftsteller Thomas Hürlimann). Diese Haltungen sind bestenfalls a-europäisch, schlechtestenfalls antieuropäisch.
A-europäisch weil sie verkennen, dass die Schweiz längst Teil Europas ist. Nicht nur im übertragenen, symbolischen oder geografischen Sinn, sondern insbesondere auch im rechtlichen, wirtschaftlichen und realpolitischen: Die Ebene des relevanten Policy Making hat sich verschoben. Es gibt kaum ein Lebensbereich, der nicht längst von der europäischen Gesetzgebung reguliert oder zumindest beeinflusst wird. Es gibt für die Schweiz kein Aussenvorbleiben, im Guten wie im Schlechten – das gilt auch und insbesondere für die europäische Migrationspolitik in der Form von Frontex.
Antieuropäisch sind jene Haltungen, welche in der EU wahlweise ein neoliberales, imperiales, oder undemokratisches Ungeheuer sehen. In Tat und Wahrheit ist die EU ein liberales und demokratisches Projekt, wie die Schweiz ein liberales und demokratisches Projekt ist. Wie jedes liberale und demokratische Projekt ist es nicht perfekt, es gibt vieles, was verändert und verbessert werden muss (zuerst und zuvorderst Frontex). Es sind uneingelöste Versprechen – aber die besten Versprechen, die wir haben. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Weniger Nationalismus, mehr Mitbestimmung
Eine zweite Begründung könnte darin liegen, dass der Kanton Uri irgendwie ein natürlicher Teil der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist und deshalb auch die politische Mitverantwortung des Kantons Uri für die Schweiz irgendwie natürlicher ist als jene der Schweiz in Europa. Das ist – zusätzlich zur Europa- Verdrossenheit – Nationalismus in Reinform.
Eine dritte Begründung könnte schliesslich lauten, dass der Kanton Uri in der Schweizer Politik grössere Einflussmöglichkeiten hat als die Schweiz in der Schengen-Rechtsordnung. Das lässt sich grundsätzlich in Frage stellen, wenn man den kleinen Kanton Uri als einen von 26 Schweizer Kantonen mit der Schweiz als ein (kleiner) von 26 Schengen-Mitgliedstaaten vergleicht.
Noch entscheidender ist aber der Punkt, dass die Schweiz bis heute keine umfassende politische Mitbestimmung auf europäischer Ebene will. Ausgerechnet beim Schengen-Abkommen verfügt die Schweiz bereits heute über ein Mitspracherecht – im Gegensatz zu einem Grossteil der europäischen Rechtsetzung, die wir «autonom» nachvollziehen. Das Ziel muss somit mehr Mitsprache und Mitbestimmung auf europäischer Ebene sein, nicht weniger.
Gegen die Europa-Verdrossenheit
Liebe Urner*innen, keine der drei Begründungen vermag darzulegen, warum die Schweiz am 15. Mai einen Schengen-Austritt in Kauf nehmen sollte, um ein Zeichen gegen Frontex zu setzen. Der menschenverachtenden Migrationspolitik und den Menschenrechtsverletzungen Europas – und damit auch der Schweiz – sollten wir weder mit Europa-Verdrossenheit oder Nationalismus begegnen, noch mit einem selbstgefälligen Rückzug aus jenen Gremien, in denen diese Politik verantwortet wird.
Im Gegenteil müssen wir unsere Verantwortung in diesen Gremien wahrnehmen und uns für eine liberale und menschenwürdige Migrationspolitik einsetzen. Das können wir nur mit einem Ja zur Schengen-Weiterentwicklung am 15. Mai.