Neues Sexualstrafrecht: Ein Meilenstein, aber nicht das Ziel
Was als Vergewaltigung gelten soll, wurde in der Schweiz intensiv debattiert. Seit heute ist das neue Sexualstrafrecht in Kraft. Auch wenn das neue Gesetz nicht unserer liberalen Vorstellung von sexueller Selbstbestimmung entspricht: Es ist ein wichtiger Meilenstein. Dennoch liegt für eine echte Konsenskultur noch viel Arbeit vor uns. Ein Rück- und Ausblick.
Wir erinnern uns: Unter grosser Beobachtung der Öffentlichkeit verabschiedete das Parlament vor einem Jahr das neue Sexualstrafrecht. Dies, nachdem die Revision bereits während rund vier Jahren Teil einer grösseren, intensiv geführten öffentlichen Debatte war. Breite Teile der (Zivil-)Gesellschaft forderten eine “Nur Ja heisst Ja”-Lösung: Sexuelle Handlungen brauchen die Zustimmung aller Beteiligten.
Das Parlament sah dies jedoch (knapp) anders. Bei sexualisierten Gewaltdelikten gilt daher neu der “Nein heisst Nein”-Grundsatz, wobei das sogenannte “Freezing” explizit erfasst ist. Konkret heisst das, dass Betroffene grundsätzlich noch immer aktiv ihre Ablehnung zu ungewollten sexuellen Handlungen signalisieren müssen, damit dies rechtlich gesehen als Vergwaltigung eingestuft werden kann. Verfallen Betroffene allerdings in eine Schockstarre, bei der sie ihre Ablehnung nicht mehr aktiv zeigen können, kann dies durch das neue Sexualstrafrecht ebenfalls als Vergewaltigung sanktioniert werden.
Wie die Schockstarre beziehungsweise das “Freezing” durch die Gerichte genau ausgelegt wird, wird sich jedoch erst herauskristallisieren müssen. Das revidierte Sexualstrafrecht ist ab heute in Kraft.
Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer Konsenskultur
Mit Blick auf die von der Schweiz unterzeichnete Istanbul-Konvention – ein Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – entspricht das Schweizer Sexualstrafrecht hinsichtlich der rechtliche Definition von Vergewaltigung jetzt immerhin einem Minimalstandard. Neben der Anerkennung des Freezings erfasst der Tatbestand der Vergewaltigung neu nicht mehr nur vaginale Penetration, sondern auch anale und orale Penetration. Zudem gilt in der Schweiz seit heute eine geschlechtsneutrale Definition von Vergewaltigung. So können neu auch Sexualdelikte an Personen mit dem Geschlechtseintrag “Mann” vor dem Gesetz als Vergewaltigungen gelten. Dies erfasst etwa auch diejenigen nicht-binären Personen, die aufgrund der aktuell fehlenden Möglichkeit eines dritten Geschlechtseintrags in amtlicher Hinsicht als “Mann” erfasst sind.
Das neue Sexualstrafrecht ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber wird dem Ziel einer Konsenskultur noch nicht gerecht. Einer Kultur, in der sexuelle Handlungen nur mit dem Einvernehmen aller Beteiligten legal sind. Einer Kultur, in der es für alle selbstverständlich ist, sich darum zu sorgen, dass sexuelle Handlungen nur mit dem Einverständniss aller Beteiligten geschehen.
Um eine echte Konsenskultur zu verwirklichen, ist ein institutionelles Umdenken erforderlich. Den Weg dorthin können diverse Massnahmen bereiten:
- Sensibilisierungs-Kampagnen von Bund, Kantonen und Gemeinden
- Gezielte Ausbildungen zum rücksichtsvollen Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt, etwa bei der Polizei und Gerichten
- Bildungsarbeit zu konsensbasiertem Sexualverhalten, z.B. an Schulen
- Weitergehende Forschung zu sexualisierter Gewalt, beispielsweise indem potenzielle Missstände bei der Umsetzung des revidierten Sexualstrafrechts aufgedeckt werden
Weckruf ans Parlament: Zivilgesellschaftlicher Druck wirkte
Dass es überhaupt zu den erzielten Fortschritten kommen konnte und sich “Ja heisst Ja” sogar fast durchsetzte, ist einer breit angelegten Kampagne zu verdanken, die von Persönlichkeiten wie der Juristin Nora Scheidegger oder der Expertin für sexualisierte Gewalt, Agota Lavoyer, Bewegungen wie dem Feministischen Streik oder Betroffenengruppen wie vergewaltigt.ch und auch Organisationen wie Amnesty International, alliance F oder SP Frauen mitgetragen wurde.
Auch Operation Libero hat sich aktiv an der Kampagne für “Nur Ja heisst Ja" beteiligt: In der Vernehmlassung zur Revision des Sexualstrafrechts plädierten wir mit einer dezidiert liberalen Perspektive für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Wir räumten mit Mythen rund um “Nur Ja heisst Ja” auf oder zeigten auf, wieso «Nein heisst Nein» im Sexualstrafrecht ungenügend ist.
Gemeinsam mit Amnesty International Schweiz lancierten wir einen Weckruf ans Parlament, der von über 40’000 Menschen und 50 Organisationen unterzeichnet wurde. Auf dem Bundesplatz machten wir mit einem pinken XXL-Wecker und mit breiter Unterstützung von Politiker*innen von links bis rechts Lärm für “Nur Ja heisst Ja”.
Die Bemühungen von verschiedenen Seiten führten zum stückweisen Umdenken: Nachdem Bundesrat und Ständerat sich noch gegen die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung aussprachen, folgte der Coup: Zuerst sprach sich die zuständige Kommission des Nationalrates, später dann auch der ganze Nationalrat, für die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung aus – was für ein Erfolg!
Bekanntermassen reichte es am Ende dieser Revision noch nicht für ein gesamtheitliches institutionelles Umdenken. Doch ein wichtiger Meilenstein ist erreicht. Der Blick auf diese gesellschaftspolitische Kampagne zeigt eindrücklich: Es lohnt sich, hartnäckig dranzubleiben. Wir können etwas bewegen. Stück für Stück. Schritt für Schritt. Für unsere Gesellschaft. Für die Betroffenen. Für uns alle.
Verfasser: Denis Sorie, ehem. Co-Leitung Team Sexualstrafrecht