Ein pinker Blick auf die Ständeratsdebatte zum neuen Sexualstrafrecht
Unsere Antwort auf die Argumente vom Ständerat
Am 07. Juni 2022 debattierte der Ständerat über die Revision des Vergewaltigungs-Tatbestands. Im Fokus standen die Widerspruchslösung “Nein heisst Nein” (Mehrheit im Rat) und die Zustimmungslösung “Nur Ja heisst Ja” (Minderheit im Rat). Daneben wurde eine Kombinationslösung diskutiert. Die Rechtskommission des Nationalrats wird sich am 20. Oktober mit diesem Thema befassen.
In der Debatte wurden unterschiedlichste Argumente genannt. Wir von Operation Libero haben uns im Nachgang intensiv mit der Diskussion auseinandergesetzt. Wir haben die verschiedenen Aussagen der Ständerät*innen einander gegenübergestellt und den Inhalt der Aussagen einem kritischen (pinken) Blick unterzogen.
Hier zeigen wir nun auf, weshalb die “Nein heisst Nein”-Lösung nicht für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht reicht.
Sexualität grundsätzlich kriminalisieren? Natürlich nicht!
“Die ‘Nein ist Nein’-Variante, die Ablehnungslösung, geht davon aus, dass ein sexueller Kontakt in aller Regel im gegenseitigen Einverständnis erfolgt und nicht als unwillkommener Übergriff empfunden wird - ausser eine der beiden beteiligten Personen sagt Nein. Das ist eine positive Sichtweise auf die Sexualität zwischen zwei Personen, die als grundsätzlich erwünscht betrachtet wird.” (zit. Beat Rieder)
Der Ständerat Beat Rieder geht bei einer “positiven Sichtweise auf die Sexualität” davon aus, dass sexuelle Handlungen grundsätzlich nur mit dem Einverständnis aller Beteiligten stattfindet. Er verweist damit auf die Gefahr, dass Sexualität kriminalisiert werden könnte. Die Zustimmungsvariante “Nur Ja heisst Ja” vermittle gemäss Beat Rieder hingegen, dass sexuelle Handlungen grundsätzlich unerwünscht und strafbar seien. Heidi Z’graggen bezeichnet es als “eine befremdliche Vorstellung”, wenn das Strafrecht vorschreibt, dass sexuelle Kontakte im Einvernehmen zu erfolgen haben. “Nur Ja heisst Ja” müsse in die Köpfe der Bevölkerung statt ins Strafrecht.
Wollen wir Liberas und Liberos Sexualität also generell kriminalisieren? Natürlich nicht! Die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung (Zustimmungslösung) führt nicht zu einer generellen Kriminalisierung. Aber sexuelle Handlungen würden strafbar sein, wenn die Zustimmung aller Beteiligten fehlt. Wir finden das richtig: Sex steht einem nicht jederzeit einfach so zu und es ist nur dann etwas Positives, wenn es erwünscht ist. Mit dem “Nein heisst Nein”-Vorschlag wäre es weiterhin die Pflicht des Opfers, sich verbal und/oder nonverbal aktiv zu wehren. Das Unrecht besteht aber darin, dass sich jemand über die sexuelle Selbstbestimmung – die persönliche Freiheit – des Opfers hinweggesetzt hat: Damit überschreitet sie klar eine Grenze. Die sexuelle Selbstbestimmung gehört in einem modernen liberalen Rechtsstaat mit zu den wichtigsten zu schützenden Individualrechtsgütern. In einem modernen Sexualstrafrecht muss widerspiegelt werden, dass das grundlegende Unrecht eines sexuellen Übergriffes nicht in der Gewaltanwendung oder Bedrohung liegt, sondern in der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Opfers.
Wir teilen die Meinung von Ständerät*innen wie Heidi Z’graggen, dass “Nur Ja heisst Ja” in die Köpfe der Bevölkerung gehört, und die repräsentative gfs.bern-Studie zeigt, dass es bei vielen dort auch schon angekommen ist. Eben gerade deshalb gehört der Ansatz ins Strafrecht. Denn dieses ist letztlich der Ausdruck von sittlichen und moralischen Ansichten einer Gesellschaft und muss ihrem Wandel angepasst werden.
Mit der Zustimmungslösung würde nicht Sex per se strafbar, sondern lediglich Sex ohne Einwilligung – ein grosser Unterschied. Sex ohne Einwilligung ist und bleibt für uns Vergewaltigung. Das kann man auch als ‘positive Sichtweise auf Sex’ sehen, doch für uns steht nicht die Wertung als positiv oder negativ, sondern der Ausdruck der sexuellen Selbstbestimmung im Vordergrund. So halten wir fest: Die Wahrung der sexuellen Selbstbestimmung führt nicht zu einer generellen “Kriminalisierung der Sexualität”, sondern zu einem verbesserten Schutz des Grundrechtes der sexuellen Integrität.
Was Hausschlüssel mit Sex zu tun haben
“Entrer chez quelqu'un sans son consentement est punissable pénalement, selon l'article 186; pénétrer quelqu'un sans son consentement ne l'est pas forcément.” (zit. Lisa Mazzone)
Lisa Mazzone führt aus, dass das Eindringen bei einer Person - also dem Hausfriedensbruch - ohne Zustimmung der betroffenen Person gemäss Art. 186 StGB strafbar ist. Dagegen ist es das Eindringen in eine Person nicht zwingend. Ein Missstand, den die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung beheben würde. Hier entgegnet Daniel Jositsch, dass bei sexuellen Handlungen und Hausfriedensbruch andere Regeln gelten würden. Gebe man einer Person den Hausschlüssel, habe diese nun jederzeit die Möglichkeit, ins Haus einzutreten, zumindest solange man den Schlüssel besitze. Bei sexuellen Handlungen sei das nicht so einfach; wenn man einmal eingewilligt habe, sei es schwer nachzuweisen, ob die Zustimmung später entzogen wurde.
Wir denken die Analogie mit dem Schlüssel mal weiter: Sie setzt die Zustimmung zu einer sexuellen Handlung mit dem Übergeben eines Schlüssels gleich. Die Erlaubnis, ein Haus zu betreten, beinhaltet aber nicht die Erlaubnis, sich darin zu benehmen, wie man will – was im Haus passiert, entscheidet noch immer die Person, der der Schlüssel gehört, auch nachdem der Schlüssel bereits übergeben worden ist. Auch wenn der Schlüssel weitergegeben wird, gibt das der neuen Person nicht automatisch das Recht, das Haus zu betreten, dafür bräuchte es wieder eine Einwilligung. Denn Konsens muss revidierbar sein, eine Einwilligung ist nicht absolut und definitiv. So beschreibt es auch das FRIES-Konzept von Planned Parenthood, das unter anderem von der UNO verwendet wird: Eine einmal gegebene Einwilligung kann und soll jederzeit revidierbar sein.
Während ein Eingriff in die Privatsphäre ohne Einwilligung also strafbar ist, ist es unbegreiflich, wieso ein Eingriff in die sexuelle Integrität ohne Einwilligung nicht strafbar sein sollte.
Über Revolutionen und Meilensteine
“Es ist aber jetzt nicht nötig, noch diesen ‘Ja ist Ja’-Zusatzschritt zu machen. Es wäre ja nur noch ein Zusatzschritt, quasi eine Revolution (...).“ (zit. Andrea Caroni)
Ziel der Revision des Sexualstrafrechts ist laut Bundesrätin Karin Keller-Sutter die Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen und die Stärkung des sexuellen Selbstbestimmungsrecht der Menschen, insbesondere der Frauen. Laut Ständerat Andrea Caroni sei das mit der Widerspruchslösung, bei der sich das Opfer aktiv wehren muss, bereits erreicht. Sex mit Einwilligung ist lediglich ein unnötiger Zusatzschritt? Wir sehen die sexuelle Selbstbestimmung erst dann umfänglich geschützt, wenn es für sexuelle Handlungen die Zustimmung aller Beteiligten braucht.
Wir halten fest: Die Widerspruchslösung ist zwar ein Meilenstein und ein Schritt in die richtige Richtung. Doch um den Ansprüchen an die Reform gerecht zu werden, reicht sie nicht aus. Nur die Zustimmungslösung wird den Opfern von sexueller Gewalt gerecht. Auch hat die gfs.bern-Studie gezeigt, dass mit der “Nur Ja heisst Ja”-Lösung dem tatsächlichen Willen und der gelebten Realität unserer Gesellschaft am ehesten Rechnung getragen wird. Wieso also nur einen Schritt gehen, wenn wir gleich den ganzen Weg zum erklärten, unumstrittenen Ziel gehen könnten?
Beweislastumkehr?
"’Ja ist Ja’, ist kein moderner Schritt, sondern weckt falsche Erwartungen und trübt die Sicht auf das Wesentliche, nämlich auf die Einhaltung der Grundsätze des Strafrechts: keine Beweislastumkehr, kein Relativieren des Grundsatzes ‘in dubio pro reo’.” (zit. Beat Rieder)
Einer der grössten Mythen rund um die Zustimmungslösung ist, dass die Beweislast dadurch umgekehrt würde. Auch in der Ständeratsdebatte stand die Angst vor einer vermeintlichen Beweislastumkehr und der damit einhergehenden Abweichung vom Prinzip "in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten) im Raum.
Doch die Beweislast wird bei der "Nur Ja heisst Ja"-Lösung nicht umgekehrt. Opfer von sexueller Gewalt müssten, wie heute schon, schwierige Fragen beantworten und auch beweisen können, dass sie nicht zugestimmt haben. Mit der Zustimmungslösung gilt weiterhin die Unschuldsvermutung und die Beweislast liegt weiterhin bei der anklagenden Person. Das Zustimmungsprinzip will lediglich den Beweis des Widerspruchs durch den Beweis der fehlenden Zustimmung zu sexuellen Handlungen ersetzen. Also müsste bewiesen werden, dass man nicht zugestimmt hat, statt wie heute zu beweisen, dass man sich ausreichend gewehrt hat. Juristisch gesehen ist dies ein kleiner Unterschied, aus Opferperspektive hingegen ein sehr grosser.
Man wird also auch mit der “Nur Ja heisst Ja”-Lösung niemanden plötzlich ohne irgendwelche Beweise hinter Gitter bringen können oder mit einer Anschuldigung dazu zwingen können, die eigene Unschuld zu beweisen. Die Befürchtung, dass die Zustimmungslösung zu einer Umkehr der Beweislast führen würde, ist klar widerlegt.
Freezing
“Abgesehen von diesen Zahlen und ihrer Zuverlässigkeit, die von manchen angezweifelt wird, ist die Mehrheit der Ansicht, dass dieses Kriterium nicht als wesentliches Element für die Entscheidung zwischen der Verweigerungslösung und der Zustimmungslösung herangezogen werden kann. Es gibt nämlich zu wenig Anhaltspunkte dafür, wie sich das ‘Freezing’ tatsächlich auswirkt - d. h. wann es ausgelöst wird und wie intensiv das Verhalten des Täters sein muss, damit es ausgelöst wird.” (zit. Carlo Sommaruga)
Einer der wichtigsten Aspekte, der für die Notwendigkeit der Zustimmung (“Nur Ja heisst Ja”) spricht, ist das sogenannte “Freezing”. Dabei handelt es sich um das wissenschaftlich erwiesene Phänomen einer Schockstarre, die häufig bei sexuellen Übergriffen vorkommt. Es ist dem Opfer in diesem Zustand nicht möglich, sich physisch zur Wehr zu setzen oder ein (für die Widerspruchslösung notwendiges) Nein auszudrücken.
Diesem Phänomen tragen auch einige Befürworter*innen der Zustimmungslösung, wie die Ständerätinnen Lisa Mazzone und Marina Carobbio Guscetti, in ihren Wortmeldungen Rechnung. Andrea Gmür-Schönenberger stellte den Einzelantrag, dass die Ausnützung des Freezings explizit als eigener Straftatbestand in das Gesetz aufgenommen werden solle. Dadurch würde der Fokus nicht mehr auf dem Verhalten des Opfers, sondern auf demjenigen des Täters liegen. Da der Täter aktiv und konkret handle, sei sein Verhalten auch besser fassbar als das des Opfers. Dieser Ansatz ist die Kompromisslösung zwischen der Zustimmungs- und Widerspruchslösung.
Wir begrüssen es sehr, dass Andrea Gmür-Schönenberger sich für die Aufnahme des Freezings im Strafrecht einsetzt. Die Zustimmungslösung stellt unserer Meinung nach jedoch den besseren, umfangreicheren Ansatz dar: Es sollte nicht die Pflicht des Opfers sein, sich verbal und/oder nonverbal zu wehren. Das Unrecht besteht darin, dass sich die beschuldigte Person über die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers hinweggesetzt hat. Dabei ist sexuelle Selbstbestimmung betroffen, mit oder ohne Freezing. Erst durch die Zustimmungslösung wird also die sexuelle Selbstbestimmung aller Menschen geschützt.
Ausserdem wies Ständerätin Céline Vara darauf hin, dass der Vorschlag von Andrea Gmür-Schönenberg kein echter Kompromiss sei, sondern lediglich eine andere Formulierung des Prinzips “Nein heisst Nein”. Denn auf die Frage, ob die Kompromisslösung auch den Zustand der Schockstarre (also Freezing) umfasse, antwortete die Rechtsprofessorin Nadja Capus, von der dieser Vorschlag stammt, mit: “Ich weiss es nicht.” Diese Unsicherheit genügt Operation Libero nicht. Wir wollen die überfällige Revision des Sexualstrafrechts nutzen und keine halben Sachen oder Flickwerke machen.
Ständerat Andrea Caroni ist gar der Meinung, dass die Ausnutzung des Zustands des Freezings bereits jetzt strafbar sei, weil das Opfer widerstandsunfähig ist und es hierfür bereits einen eigenen Tatbestand (die Schändung, Art. 191 StGB) gibt. Ein Blick in die Rechtsprechung zeigt aber, dass dies in der Praxis nicht der Fall ist; also weiterhin von einer Gesetzeslücke auszugehen ist. Die Zustimmungslösung ist aktuell somit die einzige Möglichkeit, dem Phänomen Freezing Rechnung zu tragen.
Fazit
Viele Ständerät*innen stellen fest, dass es sich bei der im Rahmen der Revision angestrebten Widerspruchslösung um einen überfälligen Schritt in die richtige Richtung handelt. Gibt man sich hier mit der “Nein heisst Nein”-Lösung zufrieden, verpasst die Schweiz aber die Gelegenheit, den vollumfänglicheren Schutz der sexuellen Selbstbestimmung und Integrität im Strafrecht zu implementieren. Dafür ist die Zustimmungslösung klar besser geeignet. Ob der Nationalrat diese Chance auch verschläft, wird sich schon bald zeigen.
Wer weiss, wann sich die nächste Gelegenheit bietet, das Sexualstrafrecht zu revidieren? Wir wollen nicht darauf warten, dass der nächste Schritt wieder längst überfällig ist! Operation Libero setzt sich dafür ein, dass die Revision ihre Ziele erreicht. Keine halbbatzige Lösungen, kein Flickwerk, sondern ein schlagkräftiger und umfangreicher Schutz der sexuellen Selbstbestimmung. Dafür braucht es die Zustimmungslösung: “Nur Ja heisst Ja”.
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